Zwischenwelten (German Edition)
von einem Haargummi zusammengehalten. Sie betrachtet die Erwachsenen noch einmal genauer. Keine langen Haare. Sie schaut sich nach einem weiteren Kind um. Weiter vorne entdeckt sie eins von etwa acht Jahren, das über die Straße rennt. Lange Haare flattern um seinen Kopf. »Nur die Kinder haben lange Haare!« Ayse zupft etwas unbehaglich an ihren Locken, die ihr bis auf die Schultern fallen. »Ich mache mich hier so richtig lächerlich.«
»Na ja, kann schon sein. Aber mach dir nichts draus.«
»Das sagst du so!« Ayse gibt Tio einen Stoß. »Du machst dich doch auch lächerlich. Hast du hier schon jemanden in Jeans gesehen oder in einem T-Shirt? Ich glaube, so was kennen die hier gar nicht.«
Wahrscheinlich stimmt es, was Ayse sagt, muss Tio zugeben und fühlt sich gleich ein bisschen unbehaglich. »Vielleicht … vielleicht sollten wir erst mal kurz zurück in die andere Welt, die leere Welt, und uns neue Klamotten beschaffen.«
»Klingt vernünftig.« Ayse ist einverstanden.
Schnell gehen sie durch ein paar unbekannte Gassen wieder zum Kai.
Als sie an einer Terrasse vorbeikommen, weht ihnen der warme Duft von gebackenen Pfannkuchen entgegen. Da sitzen Menschen an Tischen, sie unterhalten sich angeregt, und es wird gegessen und getrunken. Es wirkt sehr gemütlich.
Tio kann gar nicht anders, wie von selbst geht er auf das Gebäude zu, aus dem der Geruch strömt. Gleich beim Eingang hängt ein Schild. »Zur alten Herberge«, liest er. »Blöd, dass wir kein Geld haben.«
Ja. Ayse findet den Geruch auch unwiderstehlich. »Und in der leeren Welt, wo alles umsonst ist, gibt es natürlich niemanden, der so leckere Pfannkuchen für uns backen kann. Wir müssen herausfinden, womit hier bezahlt wird.«
Zum Glück ist mit der geheimnisvollen Treppe nicht dasselbe passiert wie mit der Kiste. Die Treppe ist nicht Knall auf Fall verschwunden. Ayse und Tio können so einfach zurück, wie sie gekommen sind, und wenig später gehen sie wieder durch die menschenleeren Gassen.
Die Straßenbeleuchtung ist an – vielleicht geht das automatisch? –, aber die Schaufenster der Läden und die Gasthäuser, die in der bewohnten Welt so behaglich erleuchtet waren, sind hier dunkel. Das lässt die Straßen trotz der Laternen still und tot wirken. Auch in den Häusern brennt kein Licht.
Ayse und Tio gehen mit schnellen Schritten an den düsteren Fassaden vorbei.
»Hier war der Laden, wo wir die Hemden gesehen haben«, weiß Ayse noch. Sie schiebt Tio hinein. Ungeduldig reißt sie ein paar Hemden vom Ständer. »Weiß für Männer und Jungen.« Sie drückt Tio eins in die Hand. »Farbig für Frauen und Mädchen. Das Dunkelviolette hier, ob mir das wohl steht? Oder vielleicht das Braune?« Die Farben sind bei dem schwachen Licht kaum zu unterscheiden.
»Das Dunkelviolette gefällt mir«, sagt Tio und schaut mit Bedauern auf sein weißes Hemd. »Bist du sicher, dass die Männer alle nur weiße anhatten?«
Sie suchen ein paar Hemden in der passenden Größe heraus. Ayse findet eine Drehsäule mit den Bändern, die um die Hüfte gebunden werden.
»Darf ich mir wenigstens davon die Farbe aussuchen?«, will Tio wissen. Er nimmt ein strahlend Blaues. Und noch ein Rotes als Ersatz.
Ayse ist ein bisschen unsicher und wählt eher unauffällige Hemden und Bänder aus.
Die anliegenden Beinkleider entpuppen sich als eine Mischung aus Hosen und Strumpfhosen. Sie gibt es nur in Schwarz.
»Fertig«, sagt Tio mit einem erleichterten Seufzer.
»Meine Haare«, zögert Ayse. »Was soll ich damit machen?«
»Nein!« Tio schüttelt den Kopf. »Nicht abschneiden!« Ayse schaut ihn verwundert an, und er wird ein bisschen rot. »Gibt es nicht irgendwo eine, äh, Mütze oder so?«
»Gute Idee!« Ayse macht sich auf die Suche und findet ein paar gehäkelte Mützen mit großem Schirm vorn. Sie holt ein Haargummi aus der Tasche ihrer Jeans und knotet sich die Haare oben auf dem Kopf zusammen. »Mütze drüber, und nichts mehr zu sehen.«
Kurz darauf stehen sie mit großen Plastiktüten voller alter und neuer Kleider vor dem Laden.
»Und jetzt?« Ayse setzt ihre Mütze schief auf und macht ein entschlossenes Gesicht.
Tio grinst sie an. »Du siehst aus wie ein Lausbub, du weißt schon, so ein Typ aus einem dieser englischen Filme, die sie immer zu Weihnachten bringen. Grad so, als könntest du jeden Augenblick einen Apfel stibitzen.«
»Nur einen Apfel?«, fragt Ayse spöttisch und zeigt auf die Tüten voller Klamotten. »Ich klau dir ganze
Weitere Kostenlose Bücher