Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwischenwelten (German Edition)

Zwischenwelten (German Edition)

Titel: Zwischenwelten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mariëtte Aerts
Vom Netzwerk:
gelöst, das Spiel zu Ende gespielt ist? Und wann wird das der Fall sein?
    In Gedanken versunken, schlendert Ayse über die Holzterrassen bis zum Wasser und lehnt sich an das Geländer. Der Fluss ist ruhig und wirkt hellblau unter dem sommerlichen Himmel. Ist es hier eigentlich Sommer? Ayse blickt ein paar orange und gelben Blättern nach, die mit einem Geräusch, das sich anhört wie Mäusegetrippel, über die Bretter treiben. Oder ist doch eher Spätsommer, vielleicht auch Herbst? Jedenfalls nicht dieselbe Jahreszeit wie zu Hause, doch darüber wundert sie sich auch nicht mehr.
    Die Terrasse geht in einen Landungssteg über, an dem schlanke Boote festgemacht sind, nicht die hochseetüchtigen Schaluppen, von denen sie gehört hat. Das hier sind nur Boote für Vergnügungsfahrten, vermutet Ayse. Alles in diesem leicht hin und her schaukelnden, anmutigen Dorf ist verziert: Geländer, Traufen, Simse, Türpfosten und auch die Boote. Aber nicht mit irgendwelchen Farben, die scheinen die Runji nicht zu mögen. Doch das graubraune Holz, aus dem hier alles angefertigt ist, wirkt nicht langweilig. Es ist so elegant geformt und so samtig glatt geschmirgelt, dass es wunderschön aussieht.
    »Barbaren sind sie jedenfalls nicht«, murmelt Ayse. »Eigentlich müssten sie auch Bücher haben, vielleicht sogar Bilder und Kunstgegenstände.« Sie geht einfach auf eine Tür zu und drückt leicht dagegen. Sie ist nicht abgeschlossen. Zögernd und unsicher betritt Ayse das Gebäude aus Holz. Sie empfindet sich als Eindringling und muss sich selbst davon überzeugen, dass sie eintreten darf, dass hier niemand ist, der etwas dagegen haben könnte.
    Ayse sieht einen Tisch voller großer Papierrollen, und an den Wänden hängen Zeichnungen. Dunkelgrüne Linien auf gelblichem Papier. Aber das sind keine Bilder, findet Ayse, als sie die Zeichnungen näher betrachtet, sie sehen eher aus wie Entwürfe für irgendetwas. Aber für was? Es stehen Symbole dabei, die sie nicht entziffern kann. Buchstaben einer fremden Sprache? Das könnte Russisch, Chinesisch oder sonst was sein, sie kennt die Zeichen einfach nicht. Ayse betrachtet die grünen Linien auf dem Papier, sie führen erst links herum, dann rechts herum. Maschinen? He … das sieht doch aus wie ein Wagen. Vielleicht ist das ein bewegliches Unterteil, um die Schwingen in der Gegend rumzuziehen … Mit dem Zeigefinger fährt sie den Strichen und Linien nach. »Oh … Schwingen!«, ruft sie laut und erschrickt vor ihrer eigenen Stimme.
    Sie kramt in den Papierstapeln herum, die auf dem Tisch liegen, zieht weiter unten liegende Zeichnungen hervor, blättert darin und studiert sie. »Wetten, dass das Schwingen sind«, sagt sie, aber jetzt nur noch flüsternd. Diese Zeichnungen müsste Thorje sehen. Sie hört ihn noch schreien: »Wir müssen auch Schwingen bauen, dann schießen wir sie zusammen!« Und hier lagen die fertigen Entwürfe. Ob die Salzländer wussten, wie man Schwingen baut? Sirpa hat gesagt, dass sie immer ein friedliebendes Volk waren, bis die Runji gekommen sind. Vielleicht haben sie sich früher gar nicht mit Schusswaffen beschäftigt. Ob sie überhaupt etwas davon hätten, wenn Ayse ihnen die Entwürfe mitbrachte? In Ayses eigener Welt wäre es bestimmt so gut wie unmöglich, an solche Pläne zu kommen. Vielleicht waren es sogar die letzten und allerneusten Entwürfe, die verbesserte Version, besser als das, was zurzeit herumfuhr! Die Salzländer sollten zurückschlagen können, die Runji vielleicht sogar besiegen.
    Ayse schiebt ein paar Entwürfe übereinander und rollt das Papier zusammen. Kurz überlegt sie noch, ob sie mit der Übergabe der Zeichnungen an die Salzländer nicht warten sollte, bis sie Tio befreit hat, denn nachher bauen sie die Dinger nach und beschießen das Runjidorf, während Tio noch darin festsitzt! Aber bis dahin kann sie die Entwürfe auch in ihrem Zimmer im Gasthaus verstecken.
    Ayse versucht sich vorzustellen, wie sehr sich Thorje freuen würde, wenn sie ihm die Zeichnungen zeigte. Er würde sie bestimmt seinem Vater geben. Und würden sich dann die Salzländer gleich an die Arbeit machen? Und was würden sie von ihr denken, von Ayse, dem Mädchen, das die Runji überlistet hat, um den Salzländern zum Sieg zu verhelfen? Vielleicht würden sie sie voller Hochachtung bewundern? Sie wird sich eine Geschichte ausdenken müssen, eine Erklärung dafür, wie sie an die Zeichnungen gekommen ist. »Durch ein Fenster rein, mitten in der Nacht, als alle

Weitere Kostenlose Bücher