Zwischenwelten (German Edition)
das doch nicht durchgehen lassen. Deshalb haben wir Schwingen gebaut und auch das eine oder andere ihrer Gebäude zerstört. Also, mit so was mussten sie ja wohl rechnen, oder?«
Tio schnaubt. Was für ein Glück, dass diese beiden Völker wenigstens noch nichts von Bomben und Granaten gehört haben! Wenn sie die gehabt hätten, wäre hier ein schönes Chaos angerichtet worden. Tio hat oft genug im Fernsehen die Nachrichten gesehen, um zu wissen, dass diese Art der Auseinandersetzungen innerhalb kürzester Zeit die grässlichsten Folgen haben können. Er unterdrückt ein Lächeln. Wenn Kivan wüsste, wie vorsintflutlich ihre Waffen sind.
»Was lachst du denn?« Kivan hat es ihm doch angesehen.
»Lache ich?«, stellt sich Tio dumm. »Nein, wirklich nicht.« Um abzulenken, tippt er auf eine der Angeln. »Kann ich mal versuchen, damit einen Fisch zu fangen?«
»Wenn du das so interessant findest.« Kivan lächelt spöttisch. Seine Gleichgültigkeit passt gar nicht zu der Art, wie er sonst darauf besteht, dass Besucher vor den Traditionen der Runji und der Fischerei Respekt zeigen. Wieder fragt sich Tio, ob das daran liegt, dass der Junge aus einer so wichtigen Familie stammt. Als Sohn von Maile der Bedeutendsten hat er vielleicht noch nie einen Fisch fangen müssen.
»Zeigst du mir, wie das geht?«
»Nein.« Kivan lehnt sich zurück und stützt sich auf die Ellbogen. »Keine Lust.«
Tio lässt seine Füße ins Wasser baumeln. »Schwimmt ihr auch in diesem Fluss?«
»Klar.« Kivan setzt sich wieder auf. »Magst du Schwimmen?«
Tio nickt. »Ich hab fünf Scheine.«
»Fünf was?«
»Oh … das sind Papiere, die kriegst du bei den … Briganten, wenn du gezeigt hast, dass du sehr gut schwimmen kannst.«
»Boh!« Kivan scheint Tio jetzt mit ganz anderen Augen zu sehen. »Machen wir einen Wettkampf, von hier bis zur anderen Seite und zurück?«
»Gerne.« Tio steht auf. Zum Glück ist der Fluss an dieser Stelle nicht allzu breit, und er hofft, dass es keine starke Strömung gibt. Er mag ja fünf Scheine haben, doch die hat er sich in einem hellblau gekachelten Hallenbad geholt. Bestimmt kann der Runjijunge ihn mit Leichtigkeit schlagen. Er will sich das Hemd über den Kopf ziehen, aber weil er vergessen hat, erst das Band um die Hüfte zu lösen, verheddert er sich in dem Baumwollstoff. Genau in dem Moment hört er eine Mädchenstimme.
»Oh, hier steckt ihr!«
Überrascht streckt Tio sofort wieder seinen Kopf aus dem Hemd. Ist das Ayse? »He …«, will er sie begrüßen. Doch vor ihm steht ein Mädchen, das mit großen smaragdgrünen Augen verwundert zu ihm aufblickt.
»Hallo«, sagt sie. »Du bist der Junge, den sie aus dem Wasser gefischt haben. Wie heißt du?« Die Worte in der für sie fremden Sprache kommen ihr fast akzentfrei über die Lippen.
»Tio. Und du bist …?«
Kivan ist offenbar verärgert. »Meine Schwester«, murrt er.
»Hala«, stellt sich das Mädchen vor. »So heiße ich. Es wird erzählt, dass du ein Spion bist.«
»Aber nein.« Tio schüttelt mutlos den Kopf. »Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.«
»Nein, ich finde auch, dass du gar nicht besonders listig aussiehst«, sagt das Mädchen.
Tio fragt sich, ob er die letzte Bemerkung als Kompliment auffassen soll. Oder meint sie, dass er ziemlich dumm aus der Wäsche guckt?
Das Mädchen wendet sich an ihren Bruder. »Wer hat dir erlaubt, ihn hierhin mitzunehmen?«
»Ich weiß nichts davon, dass ich die Erlaubnis von irgendjemand brauche«, wehrt sich Kivan.
»Es müssen Beobachter bei ihm sein«, sagt Hala. »Das hast du doch sicher mitbekommen.«
»Na und? Er ist doch nicht verschwunden. Wir sitzen hier einfach nur. Also mecker nicht rum.«
Tio blickt an dem Mädchen vorbei zum Stegende. Ihm ist klar, dass er hier kaum noch fortkommt, wenn erst mal Beobachter zusammengetrommelt sind, die ihn begleiten sollen. Aber er kann unmöglich Runji mit zu der schwarzen Kiste nehmen. Und wenn die blöde Kiste nicht funktioniert, wie soll er ihnen dann entkommen? Er versucht abzuschätzen, wie schnell und wie stark der Junge und das Mädchen sind. Könnte er jetzt aufspringen und Haken schlagend wie ein Hase an ihnen vorbei über die Holzstege zu dem Schilfgürtel rennen und dann schnell in die Hafenstadt? Er hat eine dunkle Ahnung, dass ihm das nicht gelingen würde. Kivan und Hala würden ihn rasch einholen oder aber Alarm schlagen. Doch dann dämmert ihm langsam ein Plan.
»Keine Sorge«, sagt er zu Hala, »ich gehe nirgendwohin.
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