Zwischenwelten (German Edition)
Kivan mit einem scharfen Zug um die Mundwinkel und zeigt mit dem Finger auf Sorin.
Der Junge wird Tio keineswegs sympathischer.
Kivan trommelt mit den Fingern auf das Holz der Tischplatte. »Sorin kann Gefechte nicht ausstehen. Er wird traurig bei jedem Felsbrocken, der anständig trifft. Stimmt’s, Sorin?« Er stößt den Mann gegen die Schulter. »Ich wette, dass du insgeheim dicke Tränen weinst um die armen Salzländerkinder, die ohne Vater, ohne Mutter und ohne ein Dach über dem Kopf durchs Leben gehen müssen, nachdem sie Besuch von den Runji bekommen haben. Zum Glück ist meine Mutter nicht so weichherzig, sonst hätten wir den Kampf schon längst verloren.«
Eine Weile bleibt es still.
Tio rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Hört mal«, sagt er dann schüchtern, »wir sind auf der Durchreise. Wir bleiben nicht hier, ihr habt von uns nichts zu befürchten. Kann ich nicht einfach wieder gehen? Mein Vater ist inzwischen bestimmt schon schrecklich unruhig, weil ich nicht nach Hause gekommen bin.«
Kivan wirft Jabiron einen Blick zu. »Ich denke, es ist besser, wenn wir ein paar Kundschafter mitschicken, die mal einen Blick auf das Lager der Briganten werfen.«
»Oh … das muss nicht sein!«, sagt Tio schnell. Wohin soll er sie führen? Zu der schwarzen Kiste mitten im Wald? »Ich kann den Weg zurück schon alleine finden, und wenn ihr wollt, kann ich auch eine Botschaft überbringen …«, er blickt Kivan herausfordernd in das hochmütige Gesicht, »… dass wir hier nicht willkommen sind.«
Ihr Gespräch wird ziemlich grob unterbrochen, als ein paar Runji Hals über Kopf in das Zimmer gestürzt kommen. In einer Sprache, von der Tio kein Wort versteht, rufen sie den beiden Männern am Tisch etwas zu.
»Au.« Kivan schnalzt mit der Zunge und blickt Sorin an. Dann wechselt sein Blick zu Tio. »Aufruf, in den Kampf zu ziehen«, übersetzt er. »Es fahren zwei Bote nach Kolkwasser, da ist irgendwas los.«
Jabiron springt auf, dass sein Hocker zu Boden kracht, doch er nimmt sich nicht die Zeit, ihn wieder aufzuheben.
Tio beobachtet, wie anders Sorin aufsteht, langsam und, wie es wirkt, sehr unwillig. Die Männer verlassen das Zimmer, und Tio bleibt allein mit Kivan zurück, der offenbar noch nicht alt genug ist, um mit in den Kampf zu ziehen. Oder muss er das nicht, weil er Mailes Sohn ist?
»Es sieht ganz danach aus, als müsstest du noch etwas Geduld haben.« Er grinst Tio an. »Jetzt bleibst du noch eine Weile hier.«
Ayse geht über einen hölzernen Laufsteg. Sie ist in das unbewohnte Runjidorf zurückgekommen, um zu versuchen, mehr über das Wasservolk rauszufinden. Vielleicht gibt es hier Bücher, in denen sie was entdecken kann, Bilder, die von Ereignissen erzählen, oder Gegenstände, die ihr etwas über die Sitten und Gebräuche des Flussvolks verraten.
»Eine Bibliothek, eine Videothek und ein Computerraum wären jetzt praktisch.« Ayse muss über sich selbst grinsen. Ehrlich gesagt erwartet sie nichts von all dem bei den Runji. Was sie bisher von ihnen mitbekommen hat, wirkte ziemlich mittelalterlich, außer vielleicht der Tatsache, dass sie dieselben seltsamen – elektrisch angetriebenen? – Wagen fahren wie die Salzländer.
Gegenstände bleiben in der unbewohnten Welt. Sie verschwinden nicht zusammen mit den Menschen, die sie benutzt haben, und deshalb hofft Ayse, viele Gegenstände der Runji in dem verlassenen Terrassendorf auf dem Wasser zu finden.
Es scheint so zu sein, dass alles in der unbewohnten Welt so bleibt, wie es ist, außer wenn Tio und sie etwas verändern. Die Lampen, die Tio für sie im Gasthaus eingeschaltet hat, brannten noch, als sie zurückkam. Der Apfel, den Tio im Supermarkt angebissen hat, liegt immer noch, jetzt braun angefault, an der Stelle, wo er ihn fallen gelassen hat. Und abends ist Ayses Bett in der alten Herberge ungemacht, die Bettdecke ist noch so zerwühlt wie am Morgen, als sie darunter hervorgekrochen ist. Es ist, als ob die unbewohnte Welt mit der bewohnten überhaupt nichts zu tun hat, nur dass sie genauso aussieht. Und wenn sich etwas in der bewohnten Welt verändert, bleibt in der unbewohnten alles beim Alten. Mit eigenen Augen hat sie ja gesehen, was inzwischen alles mit dem Haus von Thorpa, Sirpa und ihren Kindern passiert ist, doch in dieser Welt ist der Hof unverändert und unbeschädigt. Ist der Hof vielleicht als eine Art sicherer Zufluchtsort bestimmt, zu dem man immer wieder zurückkehren kann, so lange, bis das Rätsel
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