Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwischenwelten (German Edition)

Zwischenwelten (German Edition)

Titel: Zwischenwelten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mariëtte Aerts
Vom Netzwerk:
es gut, und sei vorsichtig!«
    Ayse geht ein paar Schritte, aber dann erinnert sie sich an ihre Manieren. »Oh, und vielen Dank …«
    »Ja, ja, und jetzt verschwinde, los!«, unterbricht der Wirt sie und hat sich schon von ihr abgewendet.
    Ayse rennt aus der Gasse und stößt dann auf eine Menschenmenge, die nur eine Richtung kennt – raus aus der Stadt. Eine Zeit lang lässt sie sich mittreiben, doch sobald sie auf einem kleinen Hügel außerhalb der Innenstadt die Möglichkeit bekommt, kurz stehen zu bleiben, schaut sie sich Richtung Hafen um. Die Menge eilt an ihr vorbei.
    Und dann sieht sie sie liegen, die Boote der Runji. Dutzende von Booten in einer Reihe, alle mit großen Steinen zum Abschießen im Anschlag. »Nein!«, entfährt es ihr erschrocken.
    Wäre sie doch gestern Abend nur auf die unbewohnte Seite gegangen. Wäre sie da jetzt sicher? Aber ja. In der unbewohnten Welt ist nichts von den Zerstörungen zu sehen, die hier stattfinden, das ist ihr schon mehrmals aufgefallen. Ob sie dort jetzt noch hinkönnte? Aber dann müsste sie zum Hafen, gegen den Strom zurück auf den Kai. Und gerade da ist es so gefährlich!
    In diesem Augenblick fliegt der erste Stein durch die Luft, viel weiter über die Stadt, als Ayse sich bisher vorstellen konnte, und schlägt in das Dach eines Hauses ein.
    »Blöde Mist-Runji!«, hört Ayse sich fauchen. »Ich muss den Salzländern die Zeichnungen mit den Entwürfen geben, dann können sie sich zumindest revanchieren.« Da steigt ein Schreckensbild vor ihr auf. Und wenn nun in dieser Welt die Runji den Kai und die Treppe zerschießen? Kann sie dann nicht mehr in die andere Welt kommen? Aber das geht doch nicht! Sie muss dorthin, die Zeichnungen liegen da unter ihrem Bett!
    Sie unternimmt den Versuch, sich gegen die wütende Menge in Richtung Hafen zu bewegen, wird aber sofort von vielen Händen aufgehalten.
    »Kind, bist du denn verrückt geworden!«
    »Aber ich muss da hin, weil …«, will sie erklären.
    »Nichts da.« – »Ist da irgendwo dein Haus?« – »Deine Familie ist bestimmt schon in Sicherheit, alle gehen in diese Richtung, du findest sie bestimmt bald wieder.« – »Du kannst da nicht hin, Mädchen, wirklich nicht.« – »Jetzt komm einfach mit.« Und sie ziehen an ihr, schieben sie und drängen.
    Ayse lässt sich nur widerstrebend mitzerren. Währenddessen läuft ihr Gehirn auf Hochtouren: Ich muss einfach warten, bis der Angriff vorbei ist, denkt sie. Aber was ist, wenn die Treppe dann kaputt ist? Ob es hilft, wenn ich durch die Kiste hin- und hergehe? Muss ich das Buba fragen? Wo treibt sich Tio an diesem Morgen rum, sie werden ihm doch nichts angetan haben?
    Ein Stück außerhalb der Stadt lässt sie sich ins Gras fallen. Eine Weile hört sie dem Gezänk um sie herum zu. Sie hört die Klagen von Menschen, denen etwas Wertvolles zerstört wurde. Sie hört das Geschrei von Kindern, die im Gedränge ihre Mutter oder ihren Vater verloren haben. Sie hört das Fluchen alter und kräftiger junger Männer, die Rache schwören.
    »Das will ich doch alles gar nicht wissen«, sagt sie leise zu sich selbst. »Was hab ich hier eigentlich zu suchen? Das ist doch wirklich nicht mein Krieg! Ich will hier weg!« Es dauert nicht lange, und sie kann es einfach nicht mehr mit ansehen und anhören. Sie steht auf und späht in die Ferne. Findet sie den Weg in den Wald, wo die Kiste steht? Ja, hier muss sie um die Häuser herum, sie sieht einen Feldweg, der sich um die Stadt schlängelt. »Ich gehe.«
    Mit hochgezogenen Schultern geht Ayse auf dem Weg an den Weiden vorbei, ohne auf- oder sich umzusehen, vorbei an voll beladenen Wagen, vorbei am Bauernhof von Sirpa und Thorpa. Im Wald begegnet ihr niemand mehr, da ist sie allein. Ob die Salzländer wohl nie in den Wald gehen, oder gibt es diesen Wald für sie gar nicht? Ayse nimmt an, dass wohl Letzteres zutrifft, sonst würde möglicherweise um die Kiste ein ziemliches Gedränge herrschen. Nur mal angenommen, die Salzländer würden die Kiste als Zugang zu einer ihnen völlig fremden Welt entdecken und plötzlich mit neugierigen Blicken auf dem Platz der ältesten Wanderbühne herumirren! »Aber das kann doch gar nicht sein. Die Salzländer sind Spielfiguren«, widerspricht sich Ayse selbst. »Es gibt sie nicht wirklich.« Ein paar Schritte weiter fragt sie sich: »Aber warum mache ich mir dann so viele Gedanken um ihren Krieg, den es nicht wirklich gibt?« Sie fasst das karierte Tuch fester, das um die Schüssel mit dem

Weitere Kostenlose Bücher