Zwischenwelten (German Edition)
Becher Milch«, sagt Tio zu seinem leeren Rucksack. Ja, das wäre gut, aber dafür müsste er in das Gasthaus oder in ein Geschäft. Er beschließt, als Erstes bei ein paar Läden vorbeizugehen, beim Supermarkt, um sich was zu essen zu holen, und bei einem Klamottenladen, um nach trockener Kleidung zu suchen.
Das alles erledigt er im Laufschritt, schnappt sich hier was, nimmt da was mit. Und dann, als er damit fertig ist, eilt er zu der alten Herberge.
Wie wird sich Ayse freuen, ihn zu sehen! Ob sie sich wohl große Sorgen gemacht hat?
Die farbigen Lichterketten über der Terrasse schwingen im Abendwind leicht hin und her. Die Tür steht offen, es sieht richtig einladend aus.
Tio geht hinein. »Ayse!« Er schaut in die Gaststube. Da ist niemand. Er läuft schnell die Treppe nach oben. Die Tür des Zimmers, in dem Ayse das letzte Mal geschlafen hatte, ist geschlossen. Tio klopft höflich an. »Ayse?« Es kommt keine Antwort. Er klopft noch einmal und rüttelt an der Klinke. Die Tür ist nicht abgeschlossen, und leise quietschend geht sie einen Spalt auf. Tio späht ins Zimmer.
Es ist leer, still und dunkel. Das Bett sieht benutzt aus, doch heute Abend liegt niemand darin.
»Mist!«, sagt Tio laut und enttäuscht. Er geht zum Bett und blickt frustriert auf die zerwühlten Betttücher. Er hatte so sicher damit gerechnet, dass Ayse hier wäre, dass er es im ersten Moment einfach nicht glauben kann.
Ob sie sich vielleicht ein anderes Zimmer ausgesucht hat?
Er geht den Flur entlang und schaut nacheinander hinter jeder Tür. Dann rennt er die Treppe runter, durch die Gaststube und die Küche, und kommt an eine Tür, die zu einem Innenhof führt, in dem ein paar Tische und Bänke stehen. Tio späht in die Düsternis. Alles, was er sieht, sind einige Blumenkübel mit ziemlich verwelkten Pflanzen, und in der Mitte des Hofs wächst ein Bäumchen, noch jung, aber jemand hat sich die Mühe gemacht, einen kleinen Zaun darum zu bauen, um es zu schützen. Auch das Bäumchen lässt traurig die Zweige hängen.
Müde und niedergeschlagen schlurft Tio zu einer Holzbank an einem der Tische und lässt sich darauffallen. Er stützt die Ellbogen auf den Tisch und legt das Kinn in die Hände. »Wo ist die Zicke bloß hingegangen?« Schlief sie vielleicht in der bewohnten Welt in der alten Herberge? Nein, diese Vorstellung verwirft Tio sofort wieder. Warum sollte sie? Warum sollte jemand für ein Bett bezahlen, das woanders nichts kostet? Oder ist sie vielleicht in ein anderes Haus gezogen? Gab es da in der Stadt nicht ein Hotel? Irgendwo am Hafen? Tio ist sich nicht mehr ganz sicher, so was gesehen zu haben. Aber wer weiß? Vielleicht schlief Ayse in einem ganz normalen Haus. In dieser Welt wohnte schließlich kein Mensch, und tatsächlich konnte man sich in ein beliebiges Bett legen, wo man nur wollte – in das hochherrschaftliche Bett des Bürgermeisters, in das des reichen Kaufmanns, der unter Seidenlaken schläft, in das eines Mädchens, das Blumenelfen und Spitzenkissen liebt. Tio schüttelt den Kopf. Nein, Blümchen und Spitzen scheinen ihm nichts für Ayse zu sein. Und er sieht auch keinen Grund, um andere Betten auszuprobieren. Nur so, zum Spaß? Nein, dazu dürfte sie nicht in Stimmung gewesen sein, denn sie hat sich doch sicher Sorgen um ihn gemacht.
Tio schluckt. Sie wird sich doch wohl nicht einen Dreck darum geschert haben, was mit ihm passiert ist?
Schnell springt er auf und zwingt sich dazu, noch einmal alle Zimmer abzugehen. »Sie muss hier sein.«
Hat er denn im richtigen Zimmer nachgesehen? Auf der Tür steht eine Nummer: 17. Tio weiß es ganz sicher, hier hat sie das letzte Mal geschlafen. Hoffnungsvoll späht er noch einmal hinein. Vielleicht ist sie ja inzwischen eingetroffen, vielleicht hat er sich geirrt und vielleicht aus Versehen im Zimmer nebenan nachgesehen, vielleicht …
Nichts, keine Ayse.
Er geht zum Fenster, schiebt den dünnen Vorhang zur Seite und schaut eine Weile mutlos nach draußen auf den dunklen, stillen Hof.
Vielleicht ist sie zurück nach Hause gegangen, richtig nach Hause. Durch die Kiste.
»Wahrscheinlich hat sie das Spiel sattgehabt. Vielleicht will sie nichts mehr damit zu tun haben, will nichts mehr mit mir zu tun haben …«
Ja, das wird es sein. Wahrscheinlich vertraut sie ihm noch immer nicht, ihm mit seiner unheimlichen Kiste. Na, dann eben nicht. Er dreht sich abrupt um.
Decke und Laken hängen über den Bettrand, und darunter guckt etwas hervor, das auf dem Boden
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