Zwischenwelten (German Edition)
liegt. Ohne darüber nachzudenken, schaut Tio genauer hin, bückt sich dann automatisch und hebt es auf. Es sind Papierbögen, gelbliche dicke Bögen voller Symbole und Zeichnungen, die in grüner Tinte eine für Tio unergründliche Nachricht enthalten. Die Wörter sind nicht aus seiner Sprache, sind nicht einmal in Buchstaben geschrieben, die er kennt.
Was hat das unter Ayses Bett zu suchen, wie ist sie an die Bögen gekommen? Wer anderes als sie kann diese Papiere hier hingelegt haben? Was hat sie unternommen, während er bei den Runji war? Und wo steckt sie jetzt? Na klar, ganz gemütlich zu Hause, wo denn sonst. Tio flucht mit gerunzelter Stirn vor sich hin. Sein Kopf ist voller finsterer Gedanken, und automatisch rollen seine Finger die Papierbögen zusammen. Fest zusammengerollt ist der Stapel Zeichnungen wie ein Knüppel, und unwillkürlich teilt Tio ein paar sausende Schläge damit aus. Und noch einmal. Die Schläge peitschen durch die Luft und treffen mit einem trockenen Knall auf das ungemachte Bett, auf die Lehne eines Stuhls, die Lampe. Das erleichtert ein kleines bisschen, und die Stirn weiterhin böse gerunzelt, stiefelt Tio mit großen Schritten aus dem Zimmer. Die Papierrolle hat er sich unter den Arm geklemmt.
Er geht jetzt nachsehen, ob die Kiste wieder da ist, und wenn ja, geht er nach Hause. Und wehe, Ayse lässt sich nicht bald bei der Wanderbühne blicken.
Ayse wird von einem Schrei geweckt.
Sie schlägt die Augen auf und starrt benommen auf die leicht im Wind flatternden Vorhänge vor dem offenen Fenster.
Die Herberge, wird ihr dann klar. Die Herberge in der bewohnten Welt, wie an den Geräuschen von draußen zu hören ist. Was ist da los? Sie hört Rufen und Gerenne. Ein Streit? Sie findet, dass es noch zu früh am Morgen ist, um sich auf einen Streit einzulassen. Sie will erst mal schauen, ob sie sich ein Frühstück beschaffen kann.
Als sie die Zimmertür aufmacht, treibt ihr ein leichter Geruch nach gebratenen Eiern die Treppe herauf entgegen, so schwach, dass er gerade noch wahrzunehmen ist. Hat sie etwa so lange geschlafen, dass alle anderen Gäste schon vor Stunden gefrühstückt haben? Schnell geht sie zur Treppe. Blöd, und sie hatte sich so darauf gefreut: ein Frühstück mit gebratenen Eiern, geröstetem Brot und Tee. »Dafür hab ich schließlich bezahlt!«, murmelt sie. Von unten ertönen Stimmen. Eigentlich will sie direkt dorthin, woher die Stimmen kommen – aus dem Gastraum, in dem das Frühstück serviert wird. Aber dann hört sie jemanden laut und deutlich sagen: »Ein Mädchen von ungefähr zwölf Jahren, sie hat eine Mütze auf dem Kopf.«
Erschrocken bleibt sie auf der Treppe stehen. Wer fragt da nach ihr? Tio?
»Da muss ich nachdenken, ich sehe so viele Menschen«, ist die Antwort, und Ayse erkennt die Stimme des Wirts, die sie gestern auf dem Hof gehört hat.
»Ein paar Leute sagen, dass sie sie gestern Abend hier gesehen haben.«
»Kann schon sein«, brummt der Wirt. »Ich kann mich an keine Mütze erinnern. Was willst du von ihr?«
»Ach … sie ist … eine Freundin von mir.«
Ayse beißt die Zähne zusammen. Das ist eindeutig nicht Tios Stimme, sie ist rauer, schneidender. Der Akzent ist anders. Der junge Mann, der sie verfolgt hat? Sie versucht sich an die Stimme von gestern Abend zu erinnern.
»Eine Freundin, sagst du?« Der Wirt lacht leise. »Wenn sie eine so gute Freundin von dir ist, warum ist sie dann nicht bei dir? Habt ihr euch gezankt?«
»Aber nein. Wir sind … Ich hab sie, hm … verfehlt.« Es klingt zögerlich, als ob der Junge ein paar Sekunden bräuchte, um seine Lügen zu erfinden.
Der Wirt scheint das Zögern ebenfalls bemerkt zu haben. »Aha«, sagt er und räuspert sich. »Tut mir leid, mein Junge, aber hier war kein Mädchen mit Mütze.«
»Und wenn ich Ihnen …«, fängt der Junge erneut an, und Ayse hört das Klirren von Münzen.
Sie packt das Treppengeländer fester. Er will den Wirt bestechen, mich zu verraten! Sie will sich umdrehen, um die Treppe wieder nach oben zu rennen. Hatte die Zimmertür ein Schloss? Könnte sie sich da verstecken? Wohin ging das Fenster? Könnte sie da rausklettern?
Doch der Junge klimpert noch mit seinem Geld, da hört Ayse den Wirt brüllen: »Sag mal, bist du völlig behämmert! Steck dein Geld weg! Ich hab doch gesagt, sie ist nicht hier. Und jetzt scher dich weg!«
Ayse wartet noch, bis sich die Proteste des Jungen eindeutig entfernt haben, hinaus aus dem Gasthaus und über den
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