Zwischenwelten (German Edition)
eine Hand ausstrecken, den Rucksack stützen, den Fall aufhalten. Aber er ist nicht schnell genug.
Mit einem Knall, der in der Stille ohrenbetäubend klingt, fällt der Rucksack auf den harten Fußboden.
Tio zögert keinen Augenblick. Er spring auf und zerrt Ayse mit sich. Es ist ganz egal, wer zwischen den automatischen Türen steht, Tio will nur noch den Hinterausgang finden. Er weiß genau, dass es einen geben muss. Alle Supermärkte haben Hinterausgänge, wo Waren angeliefert werden, wo mit Sackkarren Kartons hin und her gefahren werden, das hat er oft genug gesehen.
Er kurvt in einen Gang mit allen möglichen Putzutensilien, und seine Hand umklammert immer noch Ayses Arm. Sie fliegt bei seinem Tempo fast aus der Kurve. Der Rucksack schlägt gegen ein Fach mit Allesreinigern, und Dutzende von farbigen Flaschen purzeln zu Boden.
Tio sieht eine schmale Tür. O bitte, lass sie nicht abgeschlossen sein, fleht er im Stillen. Er rüttelt an der Klinke, die Tür schwingt auf, und zusammen taumeln sie nach draußen in die weißen Nebelschwaden, die wie schlampige Gespenster durch die Nebensträßchen wabern. Hinter sich im Laden hören sie ein Prasseln und Klirren, und sie hoffen inbrünstig und mitleidlos, dass sich, wer auch immer dort ist, durch die Schweinerei, die sie verursacht haben, den Hals bricht und so – bitte, bitte – ein bisschen aufgehalten wird.
Ayse reißt sich aus Tios Griff los und trabt vor ihm her. Kurz bevor sie um eine Ecke rennen, wirft sie noch schnell einen Blick zurück. Eine Silhouette zeichnet sich in der Türöffnung ab. Wegen der schwachen Beleuchtung kann sie nicht mehr erkennen als eine dunkle menschliche Gestalt. Es könnte jeder sein: der Junge, der sie verfolgt hat, Buba oder das Mädchen.
Sie bleiben nicht stehen, um darüber zu diskutieren, ob diese Person es mit ihnen gut oder schlecht meint, sie sprinten, ohne sich noch einmal umzusehen, weiter bis auf den Kai. Innerhalb weniger Minuten haben sie die Strecke zurückgelegt, für die sie sonst dreimal so lange brauchen.
Keuchend steigen sie über die Treppe in die bewohnte Welt, fest entschlossen, diese vorläufig nicht mehr zu verlassen.
Zum Glück kann am nächsten Morgen von Nebel keine Rede mehr sein. Der Himmel ist blassblau mit weißen Federwölkchen. Es geht zwar ein leichter Wind, aber in den dicken Salzländerjacken kann man es auf dem Boot gut aushalten.
Lasje, der Wirt, ist so freundlich gewesen, ihnen für eine kleine Summe zwei deftige Lunchpakete zu machen.
Valpas Boot ist ein hellblau und rot gestrichener Kahn, der schon bessere Zeiten gesehen hat, aber noch halbwegs zuverlässig wirkt. Es gleitet mit gemütlichem Tuckern aus der Bucht und den Fluss hinauf. Ayse und Tio, die sich zufrieden über die Reling beugen, können gerade noch einen Blick auf das offene Meer in der Ferne werfen.
»Und das da«, Tio streckt die Hand aus, »muss der Hafen der Runji sein. Siehst du die Gebäude? Das sind solide Lagerhallen. Und ich sehe auch die Masten von Hochseeschiffen.«
Als sie dann den Fluss hochfahren, verlieren sie schnell die Sicht auf das Meer und den Runjihafen und müssen sich mit dem Blick auf die Ufer und dem Anblick von leuchtend bunten Vögeln im Schilf begnügen.
Außer Tio und Ayse sind noch drei andere Passagiere an Bord. Zwei von ihnen sind eindeutig Touristen, auch wenn die Kleidung, die sie tragen, der der Salzländer sehr ähnlich ist. Vermutlich kommen sie aus einer nicht sehr weit entfernten Gegend. Der dritte Passagier ist eine junge Runjifrau. Sie ist mit den zarten silbrigen Runjistoffen bekleidet, und Valpa hat ihr einen Platz auf einer hölzernen Bank angeboten, die er zuvor mit einem Tuch sauber gemacht hat, als ob er befürchtet, dass der Schmutz des alten Schiffs ihre Kleidung verschmieren könnte. Mit erhobener Hand hat sie ihm bedeutet, dass er sich ihretwegen nicht zu bemühen bräuchte, wobei die Worte: »Bemühen Sie sich nicht«, irgendwie herablassend geklungen haben. Die Frau hat nur mit leichtem Akzent gesprochen, offenbar beherrscht sie die fremde Sprache gut.
Tio und Ayse fragen sich, warum die Frau mit Valpas Boot reist. Sie hätte ebenso gut zu Fuß zurück in die Stadt gehen können. Für Touristen ist so eine Bootsfahrt ein schöner Ausflug, eine Tagestour, wie man sie macht, wenn man in Urlaub ist, aber für eine Runjidame, die nur das nahe gelegene Sandbach besucht hat, ist es irgendwie seltsam, dass sie Valpas Dienste in Anspruch nimmt.
Als die junge Frau sich
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