Zwischenwelten (German Edition)
auf halbem Weg den Fluss hinauf an einem hölzernen Anleger absetzen lässt, flüstert Tio Ayse ins Ohr: »Vielleicht wohnt sie hier.« Er zeigt auf ein paar Häuser, die etwas höher am Hang liegen. »Und vielleicht ist diese Stelle über den Weg von Sandbach nicht zu erreichen.«
»Sie kann doch jederzeit durch Terrasse und dann über die Brücke hingelangen«, meint Ayse. »Und außerdem, wenn du so abgelegen und am Wasser wohnst, dann schaffst du dir doch selbst ein Boot an.«
»Na ja«, Tio zuckt mit den Schultern, »wo wir herkommen, nimmst du doch auch schnell mal den Bus.«
»Den haben sie hier nicht.«
»Eben. Deshalb nehmen sie ein Boot.«
Sobald die Frau außer Sicht ist, redet Valpa wieder freier. Offenbar mag er die Runji immer noch nicht besonders, aber da er durch sie sein Brot verdient, will er vermutlich in ihrer Gegenwart nichts Schlechtes über sie sagen. Er macht ein paar nicht ganz so freundliche Bemerkungen über die Runji und legt den Touristen zum wiederholten Male dringlich ans Herz, die Vorschriften in Terrasse – die er noch einmal aufzählt – genaustens zu beachten. Kurze Zeit später legt er an einer enorm langen Landungsbrücke aus Holz an, wo Dutzende von Booten an ihren Tauen auf und nieder schaukeln – viele zierliche Runjiboote, aber auch eine beachtliche Zahl der erheblich schwerfälligeren Sandbacher.
Genau wie ein Bus oder ein Zug eine Endstation haben, wirkt dieser Anleger wie der letzte Haltepunkt für alle, die Terrasse besuchen wollen. Nur die Boote der Runji scheinen durchfahren zu dürfen, denn sie sind auch weiter oberhalb zwischen den Brücken und Häusern auf dem Fluss zu sehen. Offenbar nutzen auch die Runji den blühenden Tourismus, denn viele Besucher steigen von den schweren Booten auf die leichten und eleganten Gondeln der Runji um und lassen sich weiterbefördern. Gegen Bezahlung natürlich, und sie kriegen Führer in allen möglichen Sprachen mit, die sie herumführen.
»Eine Art Venedig«, brummt Tio.
»Wir fallen jedenfalls nicht auf«, findet Ayse. »Es wimmelt hier ja nur so von Touristen.«
Die lange Fußgängerbrücke, die von der Landungsbrücke nach Terrasse hineinführt, ist eine preiswertere Möglichkeit, die Stadt zu erkunden, als sich von den Runji herumfahren zu lassen.
Terrasse ist nun eine ganz andere Stadt als am Vortag. Jetzt ist sie bewohnt, betriebsam und lebendig. Ayse und Tio bummeln vergnügt durch die Straßen und an den Häusern entlang, vorbei an gut besuchten Geschäften und über schöne Brücken. Es riecht nach frisch zubereitetem Essen, und es verwundert sie nicht, dass die meisten Gerüche von gebratenem oder geschmortem Fisch zu stammen scheinen. Viele Häuser haben silberne oder auch goldene Vordächer, und darunter werden salzige Snacks und Imbisse verkauft. Etwas oberhalb treibt ein riesiger, beinahe runder Platz auf dem Wasser: die Terrasse eines gut besuchten Lokals mit vielen Tischen und Stühlen in unverkennbarer Runjibauart.
»Wir haben ein Lunchpaket«, muss Tio Ayse erinnern, während er sie an den unwiderstehlichen Gerüchen vorbeizerrt. Eine Zeit lang spielen Ayse und Tio brav Touristen und verhalten sich genau wie all die anderen: Geschäfte anschauen, besonders schöne Häuser betrachten, Brücken besteigen, über das glitzernde Wasser blicken. Als sie genug davon haben, beschließen sie, sich den Inhalt ihrer Lunchpakete genauer anzusehen. Sie finden einen herrlichen überdachten Hof, wo zierliche Bänke um einen sanft plätschernden Springbrunnen stehen.
»Richtig schön«, findet Ayse und sieht sich anerkennend um.
Lasje hat ihnen dicke goldgelbe Butterbrote in die Rucksäcke gesteckt und ein paar grobe und harte Haferkuchen, die sie lange kauen müssen. Etwas zu trinken hat er ihnen nicht mitgegeben. »Wasser gibt es überall«, hat er leichthin gesagt.
Sie sind kaum fertig mit Essen, als plötzlich das Dröhnen jeder Menge Gongs laut und drängend durch Terrasse hallt.
Tio verschluckt sich an seinem letzten Bissen Haferkuchen und spuckt den trockenen Brocken schnell aus, ohne darauf zu achten wohin. Das trockene, zähe Getreidestück fällt vor ihnen in einen kleinen Wasserlauf. Erschrocken schaut sich Tio um. »Nicht ins Wasser spucken!«, hat Valpa gesagt.
Ayse tritt Tio ärgerlich gegen den Knöchel. »Volltrottel!«
Zum Glück sitzen hauptsächlich Touristen in dem Hof, denen das egal ist. Jedenfalls wird Tio nicht sofort am Kragen gepackt. »Was ist das?«, fragt er und meint das
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