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Zwischenwelten (German Edition)

Zwischenwelten (German Edition)

Titel: Zwischenwelten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mariëtte Aerts
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ohrenbetäubende Geräusch.
    »Es ist Zeit für den Umzug der Maile und ihres Gefolges. Ich glaube, von uns wird erwartet, dass wir uns an den Weg stellen und uns ehrfürchtig verbeugen, wenn sie vorbeikommt. Oder dürfen Touristen das nicht?« Ayse steht auf. »Ich guck mal, ob ich irgendwo einen Platz finde, wo ich gut sehen kann.«
    Mit Schieben und Drängeln schafft es Ayse, nach vorne zu kommen. Tio bleibt hinter ein paar Runji stehen, die er lieber nicht zur Seite schubsen will. Mit etwas Glück kann er gerade noch zwischen ihnen durchspähen.
    Es dauert nicht lange, und ein Zug mit Würdenträgern kommt in Sicht. Männer und Frauen in feierlichen Gewändern schreiten über Brücken und entlang den Häusern, langsam und majestätisch. Es ist nicht schwierig zu erkennen, wer die Maile ist. Zwar haben alle Runji in Terrasse einen kahl geschorenen Kopf, doch mitten in dem Zug gibt es eine Frau, die auf der glatten Kopfhaut ein spitzes hellblaues Juwel trägt, das jedes Mal aufblitzt, wenn es einen Sonnenstrahl einfängt. Tio erkennt in ihr sofort die Frau, die ihn aus dem Wasser gefischt hat, auch wenn sie damals ganz anders angezogen war.
    »Das soll wohl besonders majestätisch wirken«, wird Tio später zu Ayse sagen, »das Ding da auf ihrem Kopf. Aber mich hat es an ein Huhn mit blauem Kamm denken lassen.«
    Hinter dem Zug laufen seltsamerweise ein paar ungepflegte Typen, die überhaupt nicht zu der Prozession zu passen scheinen. Ein paar von ihnen sind Runji, andere ganz deutlich nicht von hier, wie an ihrer Kleidung und ihren Frisuren zu erkennen ist. Und was noch rätselhafter ist: Sie sind an den Handgelenken gefesselt und werden respektlos mitgeführt wie Tanzbären bei einem Kirmesumzug.
    Die Runji an den Seiten warten, bis der Zug sich ihnen genähert hat, bevor sie sich tief verbeugen, was eine Art Welle hervorbringt, worüber Tio insgeheim grinsen muss. Sobald der Zug vorüber ist, scheint man sich wieder aufrichten zu dürfen. Auch Touristen müssen sich verbeugen, merkt Tio, als ihn ein Runji mit einem heftigen Stoß in den Rücken dazu auffordert.
    »Ekelhaft«, sagt Tio, als Ayse wieder neben ihm steht. »Was ist denn so Besonderes an dieser Frau, dass ich nur für sie zusammengeklappt am Wegrand stehen muss?«
    »Sei nicht albern«, antwortet Ayse, »in unserer Welt gibt es auch Leute, vor denen alle auf die Knie fallen. Bei uns verbeugen sich die Menschen doch auch vor allem und jedem. Vor einem König oder einer Königin, vor dem Papst und vor dem ein oder anderen hohen Typ.«
    »Oder vor dem ein oder anderen Diktator.« Tio nickt. »So einem Machthaber, der sein Volk unterdrückt. Meistens haben die auch so eine Sippschaft um sich herum.« Tio deutet mit dem Kopf auf den Zug, der langsam verschwindet.
    »Glaubst du, dass die Maile eine Diktatorin ist?«
    »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was sie für die Runji tut und ob sie überhaupt etwas für die Runji tut. Früher war sie so eine Art … Kämpferin. Die Frau, die mich aus dem Wasser gefischt hat, war stark und ist bei Kämpfen vorausgegangen, sie war klug und hat die Schwingen entworfen. Da hieß sie auch einfach Maile, das war ihr Vorname. Ich hab nie jemand ›die Maile‹ sagen hören. Aber wenn die Frau nichts anderes macht, als durch die Stadt zu ziehen und sich anbeten zu lassen … also, davon wird mir echt schlecht.«
    Der Zug ist plötzlich zum Stehen gekommen. Ayse und Tio können nicht sehen, was los ist, denn sie blicken auf eine Mauer von Runjirücken, die keinerlei Anstalten machen, zu wanken oder zu weichen. Dann ist eine schallende Stimme zu hören, die das Stimmengewirr von Hunderten von Menschen verstummen lässt.
    »Jemand verkündet was«, vermutet Tio. »Komm, wir versuchen dichter ranzukommen.«
    Doch als sie sich dem Grüppchen Würdenträger genähert haben, hat sich der Zug gerade wieder in Bewegung gesetzt.
    »Lass uns hinterhergehen«, schlägt Ayse vor. »Ich möchte sehen, wo sie hinziehen und was sie machen.«
    »Zu einem Wassertempel«, weiß Tio. »Das hat Valpa gesagt.«
    »Ist das vielleicht das Gebäude, in dem wir waren? Du weißt schon, wo wir gebadet haben?«
    Tio gibt Ayse einen Stoß und zischt: »Sag das nicht so laut! In dem Wassertempel rumzuplanschen könnte hier ein todeswürdiges Verbrechen sein.«
    Ayse sieht Tio erschrocken an. »Meinst du, dass die Todesstrafe darauf steht?«
    Es ist, wie sie vermuten. Der Wassertempel ist das Gebäude, das Ayse für ein Badehaus gehalten hat und wo

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