Zwischenwelten (German Edition)
könnte. Mit einem unbehaglichen Gefühl betritt sie die leere Promenade der unbewohnten Stadt.
Sie halten sich dicht an die Häuser, die düster und verlassen in der frühen Dämmerung stehen. Die Straßenbeleuchtung ist noch nicht eingeschaltet, sie ist nicht auf derart trübes Licht um vier Uhr nachmittags eingestellt. Ihre gespitzten Ohren fangen alles auf, was bei einem Windstoß piept, knarrt oder ächzt, aber sie hören auch raschelnde Blätter, eine tropfende Dachrinne oder einen flatternden Vorhang in einem offenen Fenster. Sie rennen eine schmale Straße entlang, und ihre Schritte hallen zwischen den Mauern wider. Hören sie da nicht schnelle Schritte, die über die Pflastersteine eilen, Schritte, die ihnen folgen? Nein, das ist nur Einbildung. Nur widerwillig biegen sie in eine noch engere Straße ein, an deren Ende sich der Supermarkt befindet.
Tio versucht, Ayse mit ein paar lockeren Sprüchen abzulenken. Sein Gefühl sagt ihm, dass hier wirklich etwas Unheimliches ist, doch sein Verstand hält dagegen, dass das nicht sein kann. Oder hört er etwa doch irgendetwas? Er schaut schnell zurück und schüttelt den Kopf. Er räuspert sich. Komm schon, mach dir nicht in die Hose … »Wenn wir gleich schon mal da drin sind, können wir doch auch ein paar Rumbariegel mit Nüssen mitnehmen. Damit wir einen Vorrat haben. Für die Fahrt morgen und in Terrasse, denn da scheint es ja ziemlich teuer zu sein.«
»Lass uns doch einfach eine ordentliche Menge Geld mitnehmen«, schlägt Ayse vor. »Wir kippen die Schublade einfach in unsere Rucksäcke.«
Die Türen des Supermarkts öffnen sich zischend, und Ayse und Tio hetzen wie gejagt hinein.
»Mach du das mit der Kasse«, bleibt Tio dickköpfig bei seinem Plan, »dann hole ich uns noch was Leckeres.«
»Ekel«, mault Ayse ärgerlich. Sie geht zur Kasse und zieht dabei schon den Reißverschluss ihres Rucksacks auf. Hektisch hämmert sie auf ein paar Knöpfe, und die Kasse sagt gehorsam Ping und springt auf. Eine Handvoll Münzen nach der anderen rafft Ayse aus der Schublade, und alles verschwindet im Rucksack. »Tio, du musst aber auch was nehmen! Ich trag das nicht alles allein.« Sie hört Tio etwas Zustimmendes antworten. Ayse knallt die Schublade mit einem wütenden Stoß wieder zu und macht sich auf die Suche nach dem Vielfraß, der seinen Rucksack mit Süßigkeiten vollstopft.
»Rumbariegel, neu: mit knusprigen Trockenfruchtstücken!«, liest er spöttisch vor, was auf der Verpackung steht. »Klingt irgendwie eklig. Was soll das überhaupt sein, Trockenfrüchte?«
»Vielleicht so was wie bei uns Korinthen und Rosinen«, schlägt Ayse vor.
»Nein, denn die hier sind orange, schau mal, da auf dem Bild.«
»Mach mal schneller.« Ayse trippelt von einem Fuß auf den anderen.
»Ich glaub, die hier sind auch sehr gut …«
Wütend wischt Ayse eine ganze Schachtel mit Riegeln in Tios Rucksack. »Da, nimm! Ich finde es hier total unheimlich. Ich will weg. Auf der Stelle!«
Tio will gerade wütend reagieren, als sie ein Wuuusch hören.
Unverkennbar das Geräusch der automatischen Ladentür.
Tio und Ayse erstarren. Ihre ängstlichen Augen lesen dasselbe Grauen im Gesicht des anderen. Dann ist Ayse so geistesgegenwärtig, Tio am Arm zu packen und runterzuziehen. Verdeckt von den Regalen, machen sie sich möglichst klein und spähen lauernd zwischen der ausgelegten Ware in Richtung Ausgang. Steht da jemand in der Türöffnung? Oder ist da nur jemand vorbeigegangen? Aber wenn das der Fall wäre, müssten sich die Türen nach wenigen Sekunden wieder schließen. Eine Weile hören sie nichts. Doch dann, nach ein paar Augenblicken, die ihnen wie Stunden vorkommen, ertönt das Geräusch einer automatischen Tür, die halb zugeht, dann aber wieder auf. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass jemand nicht ganz durchgegangen ist und noch in der Türöffnung steht. Jemand, der sich suchend umschaut, der still darauf wartet, dass sich der ein oder andere Schwachkopf mit Husten, Geraschel oder dem klassischen Niesanfall verrät. Tio und Ayse trauen sich fast nicht zu atmen.
Ayse, die nach vorn gebeugt auf dem Boden kniet, den Rucksack erst halb auf dem Rücken, merkt plötzlich, wie das Ding, nun schwer vom Geld, zu rutschen anfängt. Wenn sie nichts tut, dann gleitet er ihr mit einem dumpfen Schlag von den Schultern. Vorsichtig nimmt sie die Hände nach hinten, langt nach den Schulterriemen, um den Rucksack daran wieder hochzuziehen.
Tio sieht es kommen. Er will noch
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