Zwischenwelten (German Edition)
»Es war also jemand hinter euch her? Da du nicht gemerkt hast, dass ich es nicht war, brauche ich wohl gar nicht zu fragen, wie der Mensch ausgesehen hat, oder?«
Tio schiebt sich das letzte Stück Brot in den Mund. Unter hochgezogenen Augenbrauen blickt er das Mädchen ihm gegenüber nachdenklich an. »Was ist mit Hugo passiert?«, fragt er schließlich.
Micky kaut auf ihrer Wange herum, bevor sie antwortet. »Ziemlich viel.«
Tio stemmt die Ellbogen auf die Tischplatte und legt den Kopf in die Hände. »Ich höre.«
»Er ist eingesperrt worden. Das war vor ungefähr anderthalb Jahren.«
Tio wäre beinahe durch die Decke geschossen. »Eingesperrt! Meinst du von den Runji? Sitzt er auch im Maile Dhun?«
Micky schüttelt den Kopf, zögert kurz und sagt dann: »Schon … ja, aber damals hieß das Ding schon lang nicht mehr so. Wir waren schon viel weiter. Ich nehme an, dass es bei euch dasselbe ist: Du gehst hier weg, und wenn du zurückkommst, ist alles anders. Es sind jedes Mal aufeinanderfolgende Level – wie in einem Computerspiel. Im Klartext: Du kommst nie in eine Welt zurück, in der du schon mal warst. Aber weil ich Hugo verloren hab, musste ich Babatunde fragen, ob ich zurück darf. Ich war schon zwei Welten weiter, aber da war Hugo einfach nicht, und ich konnte nichts für ihn tun. Er saß in einer ganz anderen Zeit fest. Und jetzt hab ich die Erlaubnis, zwischen allen Welten zu wechseln. Dafür gibt es einen ganz einfachen Trick. Wenn du eine Treppe zum Wasser rückwärts runtergehst, dann … o Scheiße!« Erschrocken schlägt sich Micky die Hand vor den Mund. »Ich weiß nicht, ob ich dir das überhaupt erzählen darf.«
Tio grinst. »Jetzt sag den Satz ruhig zu Ende. Wenn du rückwärts gehst … dann?«
»Dann gehst du einen Level zurück. Und wenn du das noch mal machst, dann gehst du wieder einen zurück. Jedes Mal einen Level.«
»Und warum suchst du ihn in diesem Level?« Tio deutet um sich herum.
»Der Mistkerl hat gesehen, wie ich das gemacht hab, er hat mir den Trick abgeguckt, und nun kann er es auch.«
Tio runzelt die Stirn. Irgendwie ist ihm da was entgangen. »Aber du hast doch gesagt, dass er eingesperrt war?«
»War, ja. Inzwischen ist er längst wieder frei.«
»Und was ist dann das Problem? Hast du ihn wieder verloren?«
»Nein, nicht verloren, er ist …« Das Gesicht des Mädchens verdüstert sich, und sie wendet schnell den Kopf ab.
Tio beugt sich taktvoll über den Krug mit Limonade und gießt ihnen beiden noch ein Glas ein.
Micky räuspert sich. »Du hast sicher schon gemerkt, dass die Zeit hier anders vergeht. Ich bin also nach Hause gegangen, bin eine Weile weg geblieben, um alles zu überdenken, und als ich dann einen Plan hatte, bin ich wieder hergekommen. Ich hab gleich gemerkt, dass ich mich in der falschen Welt befunden hab, eine weiter, eine, in der Hugo gar nicht war. Ich bin hin und wieder zurück, hin und wieder zurück, doch ich bin nicht mehr zu ihm gekommen. Als mir Babatunde dann endlich den Trick verraten hat, konnte ich in alle Levels gelangen, in die ich wollte, aber für Hugo, der ja festsaß, ist auch Zeit vergangen, wie die Zeit für jeden Menschen vergeht, Tag für Tag. Und die ganze Zeit hat er im Gefängnis gesessen. Monatelang. Davon ist er total behämmert geworden. Er dachte, ich hätte ihn im Stich gelassen. Und nun ist er total wütend auf mich.« Hastig trinkt sie einen Schluck Honigsüß. »Er ist stinkwütend und will Rache.« Micky sieht Tio nachdenklich an. »Du bist ja auf einmal so blass.«
Es dauert einen Moment, bis Tio seine Stimme wiedergefunden hat. Er hustet und sagt dann: »Ich muss morgen früh gleich nach Terrasse. Ich muss zusehen, dass ich Ayse freikriege!«
»Unbedingt!«, ruft Micky. »Und hör zu: Was du auch machst, geh nicht nach Hause und zurück, bevor du sie nicht freibekommen hast!«
Ayse wird von merkwürdigen Geräuschen geweckt, die sie zuerst nicht deuten kann. Dann fällt ihr alles wieder ein: Sie sitzt im Maile Dhun, und die Geräusche, die sie hört, stammen wahrscheinlich vom Wagen mit dem Essen, der genau wie gestern Abend vorbeikommt. Frühstück? Hm, sie hat richtig Hunger. Vorsichtig gleitet sie aus der Hängematte und geht zu dem Gitter, mit dem ihre Zelle verschlossen ist.
Zu ihrer Enttäuschung ist es nicht der Wagen mit dem Essen, sondern der, mit dem ihr ein Kübel kaltes Wasser, ein Stück Seife und ein Handtuch gebracht werden.
»Wann kriegen wir was zu essen?«, will Ayse
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