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Zwischenwelten (German Edition)

Zwischenwelten (German Edition)

Titel: Zwischenwelten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mariëtte Aerts
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roten und grünen Feuerrädern, die auf der Netzhaut zu tanzen scheinen. Er braucht Sauerstoff, und zwar schnell. Ein heftiger Panikanfall sorgt dafür, dass irgendwo in seinem Körper Kraft freigesetzt wird, um sich mit dreschenden Armen und strampelnden Beinen freizukämpfen. Er kommt hoch und bemerkt, dass eine Decke über ihn geworfen worden ist, eine Decke festgehalten von dem, der ihm im Dunkel des Gangs aufgelauert hat.
    Er denkt nicht darüber nach, was er tut, und wirft sich instinktiv mitsamt der Decke über seinen Widersacher. Er hört unterdrückte Schreie. Einige bange Sekunden bleibt Tio über dem zappelnden Wesen liegen. Wie lange darf man es so am Boden halten? Würde er die Person unter sich nicht ersticken? Er will nicht auch noch einen Mord auf dem Gewissen haben. Er erschrickt so sehr vor seinen eigenen Gedanken, dass er seinen Griff leicht lockert. Das spürt der andere sofort und nutzt es, sich wieder freizukämpfen. Vielleicht hätte es noch lange so weitergehen können, ein Kampf, bei dem mal der eine und mal der andere die Oberhand hat, hätte Tio nicht laut und deutlich eine Mädchenstimme »Verdammt noch mal« fauchen hören.
    Es ist doch das Mädchen.
    Sie will sich schon wieder auf ihn stürzen, aber Tio schreit: »He, hör auf! Warum machst du das?«
    Das Mädchen zieht die Decke weg und starrt den Jungen an, der vor ihr auf dem Boden sitzt. »Ach du Scheiße … Du bist einer von den Neuen!« Offenbar erkennt sie ihn. Sie schweigt einen Moment und murmelt dann: »Ich hab gedacht, du wärst Hugo.«
    »Nein, ich heiße Tio.«
    Das Mädchen stellt sich selbst als Micky vor. »Und wo ist deine Freundin?«
    Kurz darauf sitzt Tio Micky gegenüber am Tisch, und gemeinsam essen sie dicke Butterbrote mit Käse. Eine große Kanne mit Honigsüß steht zwischen ihnen, und Tio trinkt durstig. Er erzählt Micky, was passiert ist. »Und ich verstehe nicht, warum Babatunde uns hierhin schickt, wenn es so gefährlich ist.«
    »Schickt?«, wiederholt Micky. »Niemand wird von Babatunde geschickt. Du gehst, oder du gehst nicht, genau so, wie du selbst es willst. Wenn du neugierig bist und nicht zu ängstlich, dann kommst du immer wieder hierher zurück.«
    »Ja«, sagt Tio. »Es macht einen süchtig, was?« Er kaut eine Weile auf einem großen Bissen und nuschelt dann mit noch halb vollem Mund: »Warum ist das hier so? Bist du schon dahintergekommen?«
    »Nicht genau, aber du kannst hier jede Menge lernen, das ist sicher.«
    »Hm«, macht Tio genervt. »Genau das hab ich befürchtet. Dass wir hier sind, um was zu lernen. Bah.«
    »Aber es ist doch freiwillig. Du hast eine Chance gekriegt, und jetzt mach damit, was du willst. So sehe ich das.« Micky zuckt mit den Schultern. »Aber wenn du lieber nicht mehr zurückkommen willst, dann bleib doch einfach weg. Oder?«
    Tio mustert das Mädchen mit zusammengekniffenen Augen. Sie kommt ihm etwas älter als er vor. Ihre kurzen Haare sind knallorange gefärbt, und in jedem Ohr hat sie fünf kleine Ringe. Auch in ihrer Augenbraue steckt ein Ring. »Wie lange machst du das schon, diese Welten besuchen?«
    »Ungefähr zwei Jahre.«
    »So lange?« Tio schweigt überrascht.
    Das Mädchen schiebt mit dem Zeigefinger ein paar Krümel auf dem Tisch herum. »Tja, das war eigentlich gar nicht beabsichtigt, dass es so lange dauert.«
    »Wie alt bist du?«
    »Sechzehn.«
    »Bist du alleine hier?«
    »Nnnein …« Es klingt zögernd. »Eigentlich nicht.« Micky lehnt sich zurück und seufzt. »Wir sind zu zweit hergekommen, Hugo und ich. Vor gut zwei Jahren, aber dann ist was schiefgelaufen. Hugo ist … er ist weg, würde ich mal sagen.«
    »Weg! Wie kann jemand einfach verloren gehen?«
    Micky steht so abrupt auf, dass ihr Stuhl umfällt, geht zu einem Fenster und starrt eine Weile mit düsterem Blick in die Dunkelheit.
    »Warum warst du hinter mir her?«, will Tio wissen.
    »Was meinst du mit hinter dir her? Ihr seid hier einfach so reingeschneit. Ich bin überhaupt nicht hinter dir her gewesen.«
    »Heute Abend vielleicht nicht, aber davor. Als ich mit Ayse im Supermarkt war.«
    Micky blickt ihm fest in die Augen. »Wie ich gesagt hab: Ich war nicht hinter euch her.«
    »Aber warum bist du uns dann gefolgt?«
    Jetzt reicht es ihr. Mit zwei großen Schritten steht Micky wieder am Tisch und beugt sich über Tio. »Ich bin dir nicht gefolgt. Heute Abend nicht und auch nicht sonst wann!« Sie bückt sich nach dem umgefallenen Stuhl, stellt ihn wieder auf und setzt sich.

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