Zwischenwelten (German Edition)
fast hinein.
In der Gaststube brennt Licht, und das sieht einladend aus. Im offenen Kamin brennt ein Feuer! Vergnügt geht Tio hin und streckt die Hände in die Wärme der Glut. Herrlich! Sofort fühlt er sich ein bisschen besser.
Aber nur so lange, bis ihm aufgeht, dass dieses Kaminfeuer doch sehr eigenartig ist. Wer hat es angezündet und wann? Wie lange brennen Holzscheite? In einem Anfall von Panik sieht er sich um und sucht die stille Gaststube mit den Augen ab. Dann fällt sein Blick auf einen Tisch, der mit der Längsseite an einer rohen Steinmauer steht. Genau an diesem Tisch haben Ayse und er in der bewohnten Welt gesessen und ihren Eintopf gegessen. Vorsichtig geht Tio näher heran und blickt auf die Tischplatte.
Da liegt ein nachlässig abgerissener Zettel, daneben ein Bleistift. Zögernd greift Tio nach dem Papier. Darauf Wörter:
Schritte, Schranken, anderes, kriegen, dasselbe
. Manches ist durchgestrichen. Der Anfang eines Satzes:
Wer in einer anderen Welt
. Ein Teil davon mit einer Schlangenlinie unterstrichen, ein Pfeil von dem Wort »anderen« zu dem hastig an den Rand gekritzelten »seltsamen«.
Daran, wie der Zettel flattert, merkt Tio, wie seine Hand zittert. Er denkt an den Zettel, den Ayse und er gefunden haben.
Ihr, Wir, Vorbei
. Damit haben sie noch nichts gemacht. Wollte Buba, dass sie den Vers beenden und die fehlenden Wörter ersetzen? Und dann?
Tio schaut sich die Handschrift genauer an. Sie ist nicht dieselbe wie auf dem Spiegel oder in der Kiste. Diese hier ist viel runder und hat Kringel an den Wortanfängen und Enden. Schnell legt er den Zettel zurück auf den Tisch und schaut sich nervös noch einmal um. Wer hat das geschrieben? Und wann? Sein Blick geht noch einmal zum Kaminfeuer. Dann streckt er die Hand wieder nach dem Zettel aus. Soll er ihn mitnehmen? Den muss er Ayse zeigen.
Da steht auch ein Glas auf dem Tisch, dringt es langsam in Tios Bewusstsein. Halb voll. Goldgelbe Flüssigkeit. Honigsüß? Davon hat er bei Lasje gehört, aber selbst noch nie davon probiert. Rasch legt er die Hand an das Glas, aber dann überlegt er es sich anders. Er sieht besser zu, dass er hier wegkommt, anstatt sich von unvollständigen Sätzen und halb vollen Limogläsern weiter aufhalten zu lassen! Es ist sehr gut möglich, dass derjenige, der sich in diesem Gasthaus eingenistet hat, auch der ist, der ihn und Ayse verfolgt hat. Und da es von der Handschrift her nicht Buba sein kann, geht ihm Tio doch besser aus dem Weg.
Beinahe siegt doch die Neugier über die Angst, aber dann schiebt er sich vorsichtig auf den Ausgang zu. Seine Finger liegen schon auf der Klinke, als er zögernd stehen bleibt. Die Terrasse vorn ist voll beleuchtet. Es wäre vielleicht doch schlauer, den Hintereingang zu wählen. Ayse hat ihm ja erzählt, dass sie dort rausgegangen ist, als jemand im Gasthaus nach ihr gefragt und Lasje ihr aus der bedrängten Situation geholfen hat. Oder ist es sowieso egal, weil die Person, die sie verfolgt, gesehen hat, wie er in das Gasthaus gegangen ist? Oder ist der Verfolger längst hier drinnen und hat auf ihn gewartet? Versteckt er sich hinter der Theke? Steht er in einem dunklen Flur? Tio weiß nicht mehr, was er machen soll – aus der Tür vorn über die beleuchtete Terrasse rennen oder ganz vorsichtig in die schützende Dunkelheit auf der Rückseite des Gasthauses schleichen?
Von der Terrasse ist ein Knistern zu hören, und Tio fasst einen Entschluss. Vielleicht war es nur ein Blatt, das zwischen Stuhlbeinen raschelt, aber er geht jetzt doch lieber hinten raus. Auf Zehenspitzen schleicht er durch die Gaststube. Ein schneller Blick hinter die Theke zeigt ihm, dass sich dort kein Bösewicht aufhält. Mit kleinen Schritten geht Tio durch einen dunklen Gang zur Hintertür und macht sie geräuschlos auf. Sobald der Spalt breit genug ist, springt er nach draußen. Um wenige Sekunden später die Entdeckung zu machen, dass er offenbar die falsche Tür erwischt hat und Hals über Kopf im Hinterhof des Gasthauses gelandet ist.
»Verdammt«, knurrt er mit zusammengebissenen Zähnen. Hier gibt es keine Tür zur Straße, der Hinterhof ist von Mauern umgeben. Wütend dreht Tio sich um und geht wieder in den Gasthof. Diesmal kümmert er sich nicht um den Lärm, den er verursacht, und poltert über den Gang, fest entschlossen, direkt zur Eingangstür zu stürmen und dann in einem Zug über die Terrasse und bis zum Kai zu rennen. Er hat keine Lust, weiter nach dem Hinterausgang zu suchen. Dann
Weitere Kostenlose Bücher