Zwischenwelten (German Edition)
Kinn und streckt den Rücken. »Vielleicht kannst du mir zeigen, wo ich bezahlen muss?«
Kivan tritt einen Schritt zur Seite und macht eine einladende Geste, als wollte er Tio vorbeigehen lassen.
Tio zieht seinen Rucksack hoch und stiefelt triumphierend an Kivan vorbei.
Dann passiert etwas, das er hätte kommen sehen müssen. Später am Tag würde er sich am liebsten selbst vor den Kopf schlagen, wenn der nicht so wehtäte. Kivan streckt ein Bein aus, eine sehr alte und bewährte Methode, jemand stolpern zu lassen. Tio geht zu Boden, obwohl er noch mit den Armen rudert und versucht, das Gleichgewicht zu halten. Er fällt und schlägt mit dem Kopf gegen eine Brüstung. Ganz kurz verspürt er einen blendenden Schmerz, der Blitze auf seine Netzhaut zaubert. Und dann – dann wird alles schwarz.
»Verdammt, das ist jetzt schon das zweite Mal«, ist das Letzte, was er laut denkt, bevor es völlig Nacht um ihn wird.
Ayse stampft mit dem Fuß auf. Ist die Frau denn verrückt geworden! »Ich laufe da nicht mit, zum Donner noch mal! Lassen Sie mich los!« Doch die Bewacherin reagiert nicht auf ihr Toben. Unerbittlich fährt sie damit fort, Ayses dünne Handgelenke zusammenzubinden. »Ich muss nicht mit«, jammert Ayse. »Wirklich nicht. Mein Freund Tio bezahlt das Lösegeld. Er hat es mir versprochen. Er kommt rechtzeitig mit dem ganzen Geld und … Sie wissen doch bestimmt, dass Sie mich dann freilassen müssen? He, hallo, hören Sie mir überhaupt zu? Antworten Sie doch!«
Es ist dieselbe Bewacherin, die sie schon früher nicht verstanden hat. Oder so getan hat, als würde sie nichts verstehen. In weniger als einer Minute ist sie fertig. Mit solch widerspenstigen Personen kennt sie sich aus.
Entsetzt starrt Ayse auf ihre gefesselten Hände. Nicht, dass es drückt oder wehtut, die flache Kordel, mit der die Frau ihre Arme aneinander gebunden hat, ist breit, geschmeidig und aus einem äußerst weichen Material. Aber warum muss sie das erleiden? Wo bleibt denn Tio bloß? Ist er nicht rechtzeitig gekommen?
Sie wird durch einen langen Gang geführt, in dem an beiden Seiten erschreckend viele Wachen mit Speeren stehen. Dann kommen sie zu einer Tür, die in eine weite Halle führt.
Mit großen Augen schaut Ayse sich um. In der Halle befinden sich mehrere Gefangene. Allen sind die Hände gefesselt, und sie starren geduldig vor sich hin. Ayse erinnert sich an die Prozession, die sie gestern vorbeiziehen gesehen hat, und nun begreift sie, was es mit den verwahrlosten Gestalten auf sich hatte. Das waren Leute, die Vorschriften missachtet haben, und heute ist sie eine von ihnen. Wächter greifen nach den Seilen und bündeln sie, und so werden die Gefangenen nach draußen geführt, wo die Maile und ihr Gefolge schon bereitstehen. Das schwere hallende Dröhnen des Gongs erklingt, und der Zug setzt sich in Bewegung.
Ayse bleibt nichts anderes übrig, als mitzulaufen; wenn sie stehen bleibt, wird sie umgerissen. Einmal passiert ihr das fast und bringt ihr mürrische Blicke ihrer Mitgefangenen ein, die keine Lust auf derartige Verzögerungen haben und wahrscheinlich längst wissen, dass Widerstand nicht den geringsten Sinn hat.
Der Zug geht über Brücken und an Häusern entlang, zwischen Massen von Runji durch, die sich zu beiden Seiten der Stege gesammelt haben. Wieder wird sich tief verbeugt, und alles geschieht in Totenstille.
Bis Ayse plötzlich eine bekannte Stimme hört. Tio! Sie blickt auf und versucht zu orten, woher sie kommt.
»Ayse, ich hatte das Geld, um rechtzeitig zu bezahlen, glaub mir!«
Auf beiden Seiten des Zugs ist empörtes Zischen zu hören, und Ayse sieht, wie sich Leute mit bösen Gesichtern umdrehen. Dann sieht sie ganz kurz Tios Kopf auftauchen und dann noch einmal. Tio springt hinter einer Gruppe Leute mit breiten Rücken, die ihn nicht durchlassen wollen, auf und nieder. Wahrscheinlich versucht er, einen Blick auf seine Freundin zu werfen.
»Das war Kivan, dieses Ekel«, hört Ayse ihn noch rufen, doch das kommt ihn teuer zu stehen. Nicht allein wegen der mangelnden Ehrerbietigkeit, während des Umzugs herumzuspringen und zu schreien, sondern weil er die Stirn hat, Kivan in Anwesenheit der Maile ein Ekel zu nennen. Zahlreiche Runji schaudern vor Entsetzen.
Ayse kann nicht erkennen, was weiter mit ihm geschieht. »Tio?«, ruft sie voller Angst. Ein Wächter zieht bärbeißig an dem Tau, an dem sie geführt wird, und blafft sie entrüstet an. Trotzdem ruft sie noch ein paar Mal den Namen ihres
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