Zwischenwelten (German Edition)
nimmt er doch lieber den Weg, den er kennt.
Aber Tio schafft es nicht bis zum Kai, ja noch nicht einmal aus dem Haus. Er ist erst wenige Schritte aus der Dunkelheit des schmalen Gangs herausgetreten, da stürzt sich etwas über ihn. Etwas Großes. Etwas Schweres, Beängstigendes. Die Beine geben unter ihm nach, und er fällt der Länge nach zu Boden. Sein Angreifer stürzt auf Tio, dem durch den Aufprall die Luft aus der Lunge gepresst wird. »Uhffchch …«, hört er sich selbst noch ausstoßen, dann wird ihm schwarz vor Augen.
Ayse lässt sich auf den Hocker fallen, der an der Wand steht. Sie hat keine Angst mehr, hier passiert ihr nichts. Die Angst ist der Langeweile gewichen. Sicher eine halbe Stunde lang hat sie sich am Gitter rumgedrückt in der Hoffnung, dass irgendjemand vorbeikäme. Doch es kam niemand, der lange Gang, von dem die Gefängniszellen abgehen, blieb leer.
Ja, sie hatte Angst. Angst davor, in einen unheimlichen düsteren Kerker voller Ungeziefer geworfen zu werden, verschimmeltes Brot essen zu müssen, geschlagen zu werden, festgebunden. Sie schaut sich noch einmal um. Offenbar hat sie zu viele gruselige Filme gesehen.
Eine Zelle kann man kaum nennen, wohin man sie gebracht hat. Inzwischen achtet Ayse schon nicht mehr auf die filigranen Schnitzereien der Runji, doch es erstaunt sie sehr, dass selbst ein Ort, in dem Häftlinge ihre Strafe absitzen müssen, auf diese Art ein bisschen freundlicher gestaltet ist. Wieder hört sie Hala sagen: ein kultiviertes Volk. Na gut. Ayse muss zugeben, dass etwas dran ist, wenn die Runji selbst ihren Gefangenen noch eine angenehme Umgebung gönnen. Und sie wird gut behandelt, das kann man nicht anders sagen. Sie hat ein ordentliches Abendessen vorgesetzt bekommen mit gebratenem Fisch, frischem Brot und einem grünen, wässrigen Blattgemüse, das leicht salzig schmeckte. Sie hat alles bis auf den letzten Krümel aufgegessen.
Der Raum, in dem sie sich befindet, hat keine Fenster, aber von den Wänden strahlen kleine Lampen in einem warmen gelblichen Licht, das ihre Zelle freundlich beleuchtet. Sie weiß, dass es ein Kellergewölbe sein muss, in dem sie sich befindet – sie musste mehrere Wendeltreppen hinuntersteigen –, aber es ist nicht feucht oder bedrückend hier unten. Über Belüftungsschächte kommt frische Luft in die unterirdischen Räume. Ab und zu spürt Ayse einen leichten Windhauch über sich streichen. Und sie fragt sich, ob sich Kellergewölbe in Terrasse auch unter Wasser befinden.
Sie haben ihr einen Krug mit eiskaltem Wasser und einen Becher gegeben, sie kann trinken, so viel sie will, und sie haben sie auf die Klingel hingewiesen, von der sie Gebrauch machen kann, wenn irgendetwas ist.
Ayse seufzt noch einmal und blickt finster auf die Hängematte, die an kräftigen Seilen von zwei Ringen an der Decke baumelt. Ihr Schlafplatz für die Nacht. Sie hat schon eine Nacht in so einem schaukelnden Ding zugebracht, das macht ihr keine Sorgen. Sie hat das letzte Mal gar nicht so schlecht darin geschlafen. Und sie braucht sich auch keine Sorgen zu machen, dass es vielleicht zu kalt würde: In ihrer Zelle gibt es Decken, die zwar dünn, aber aus dem kräftigen, schimmernden Runjimaterial gemacht sind, das sie von der Kleidung her kennt und das sich warm und geschmeidig um den Körper legt. Was sie beunruhigt, ist die Aussicht darauf, vielleicht morgen bei der blöden Prozession mitlaufen zu müssen. Da muss man doch einfach wütend werden. Und wenn sie wütend ist, kann sie nicht schlafen.
Die Ellbogen auf den Knien, beugt sie sich vor und knabbert eine Weile mürrisch an ihren Nägeln. Tio wird es doch wohl schaffen, das Geld zusammenzukratzen? Und morgen rechtzeitig da sein, bevor sich diese lächerliche Prozession in Bewegung setzt und sie hinterherhoppeln muss als trottelige Touristin, die nicht in der Lage ist, sich an irgendwelche Vorschriften zu halten? Ob sie wohl ausgelacht, verspottet und ausgebuht wird? Wenn sie bloß nicht mit Dingen nach mir schmeißen, denkt Ayse nervös und ist jetzt schon ganz empört. Wenn Tio sich nur beeilt! Und wenn er bloß nicht verschläft!
Und wenn das unbewohnte Sandbach am Abend nur wirklich leer ist, wenn Tio nur nicht auf jemanden stößt, wenn der Verfolger bloß nicht wieder im Schatten der dunklen Gassen lauert, um ihn diesmal, wo er alleine durch die verlassenen Straßen geht, zu überfallen.
Wenn, wenn, wenn …
Die schwarze Wand vor seinen Augen bleibt nur ein paar Sekunden und weicht dann
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