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Zwischenwelten (German Edition)

Zwischenwelten (German Edition)

Titel: Zwischenwelten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mariëtte Aerts
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sollen wir plötzlich unsere Füße in genau dasselbe Wasser stecken.«
    Ayse hört, wie die Mitgefangenen und Wächter erschrocken den Atem anhalten. Mürrisch schaut sie sich um. »Oder etwa nicht? Was mache ich denn jetzt schon wieder falsch?«
    Die Frau, die sie schon mehrere Male ermahnt hat, zieht Ayse am Jackenärmel. »Du darfst da doch nicht rein, Mädchen. Mit deinen Schuhen …«
    Die Maile sagt etwas in Runjisprache.
    »Das verstehe ich nicht.« Ayse zuckt mit den Schultern.
    Die Maile winkt eine Wärterin näher und sagt schroff ein paar scharfe Worte zu ihr.
    Die Wärterin kommt schnell auf Ayse zu, packt sie am Arm und zerrt sie aus dem Wasser. Ayse lässt sich bis vor den Thron der Maile schleifen. Sie denkt jedoch nicht daran, den Kopf zu senken, und blickt die Maile mit hoch erhobenem Haupt tapfer an.
    »Du bist Ayse«, sagt die Maile, und es klingt mehr wie eine Anklage als eine Frage. »Und du bist zwölf Jahre alt.«
    Ayse nickt. »Ich glaube, etwa so alt wie Ihre Tochter«, sagt sie dann selbstbewusst. »So alt wie Hala.« Ob das das Herz der Maile schmelzen lässt? Vielleicht hilft es ein bisschen.
    Die Maile blinzelt. »Warum stellst du dich immer wieder in unser sauberes Quellwasser?«
    »Das erste Mal, weil ich gar nicht gewusst habe, dass das Wasser etwas Besonderes ist, und eben, weil ich dachte, dass ich es darf«, antwortet Ayse rasch. »Ich verstehe das ganze Getue hier nicht«, sie deutet auf die anderen Gefangenen, die rastlos mit ihren Schüsseln Wasser schöpfen, »das ganze Gejaule wegen dem Wasser! Niemand, der einem vorher etwas erklärt, aber wenn man dann etwas verkehrt macht, sind alle total empört.« Sie streckt ihre gefesselten Hände vor. »Und das hier finde ich auch dumm. Man fesselt Menschen doch nicht! Jedenfalls nicht ein Mädchen von zwölf Jahren. Zumindest macht man es da nicht, wo ich herkomme. Ich finde Terrasse eine ziemlich unangenehme Stadt, und ich finde die Runji ziemlich unangenehme Menschen.« So! Diese Bemerkung hat gesessen.
    Nach kurzem Schweigen winkt die Maile die Wärterin wieder zu sich. Dieses Mal scheint sie der Frau den Auftrag zu erteilen, das Mädchen irgendwo anders hinzubringen, denn die Wärterin packt Ayse am Arm, diesmal aber erheblich fester, und führt sie weg. Sie verlassen den Tempel.
    »He, wo bringen Sie mich hin?«, fragt Ayse. »Hören Sie doch auf, mich so rumzuzerren!« Sie schimpft weiter vor sich hin und bleibt stehen.
    Jetzt reicht es der Wärterin. Sie seufzt tief und sagt dann klar und deutlich: »Ich bring dich in den Maile Omre Dhun. Wir haben uns jetzt lang genug mit dir rumgeärgert.«
    Als Tio wieder zu sich kommt, fasst er sich als Erstes ganz vorsichtig an den Hinterkopf, wo er eine dicke Beule hat. Er setzt sich auf und holt ein paar Mal tief Luft. Ihm ist nicht übel oder schwindlig, und so beschließt er aufzustehen. Er tastet nach seinem Rucksack. Den hatte er doch auf dem Rücken, als er hingefallen ist, oder nicht? Er fasst sich an den Rücken, schaut verwundert auf die Bretter des Stegs, auf dem er sitzt. Sein Rucksack ist weg! »Kivan, dieser Mistkerl!« Er rennt los. Er glaubt, den Gong gehört zu haben, und dann sieht er weiter vorne Menschen aufgereiht stehen. Als er näher kommt, fangen sie an, sich zu verbeugen. Der Umzug ist also schon in vollem Gange, und Ayse muss mitlaufen, hintenan, zusammen mit wer weiß was für Schuften und Verbrechern! Die Leute vor ihm scheinen nicht bereit zu sein, auch nur einen Zentimeter zur Seite zu rücken. Immer wieder springt Tio hoch und versucht, einen schnellen Blick auf Ayse zu werfen, und sobald er sie für den Bruchteil einer Sekunde gesehen hat, fängt er an, ihr etwas zuzurufen. Er will sich entschuldigen, ihr erklären, was passiert ist, doch die Leute um ihn herum lassen sich ein so unehrerbietiges Verhalten nicht gefallen. Ein kräftiger Kerl packt ihn an der Jacke und gibt ihm einen Stoß, wodurch er beinahe wieder zu Boden gestürzt wäre. Tio hat keine Lust, sich noch einmal den Kopf aufzuschlagen. Er gibt auf. Schweigend, mit unglücklichem Gesicht läuft er hinter den breiten Rücken mit dem Umzug bis zur Mittelterrasse, wo die Urteile verlesen werden. Er hört Ayse protestieren, sieht, wie die Runji um ihn herum unruhig werden, den Kopf schütteln und missbilligend murmeln. Das kann er nicht länger mit ansehen, und er beschließt, sich einen ruhigen Ort zu suchen, um zu überlegen, was als Nächstes zu tun ist.
    Eine Stunde später sitzt er immer noch

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