Zwischenwelten (German Edition)
weil sie nicht wissen, was sie mit dir machen sollen.« Ika kichert. Sie schiebt einen kleinen Packen Papier zur Seite und sieht Ayse erwartungsvoll an. »Sie schicken mir oft widerspenstige Gefangene. Manche sind nicht ganz richtig hier oben«, die alte Dame tippt sich gegen ihren kahlen Kopf, »aber dafür habe ich besänftigende Mittel.« Sie zeigt auf die farbigen Fläschchen, die vor ihr stehen. »Oder ich führe beruhigende Gespräche mit ihnen, ein geneigtes Ohr hilft oft erheblich mehr, als die Leute denken. Ich sammele ihre Geschichten, schreibe sie auf, verwahre sie, lese sie wieder und benutze sie manchmal.«
Ayse blickt auf die mit der Hand beschriebenen Papierbögen auf dem Tisch. »Sind sie das?«
»Ja, sicher, alle dreißigtausendfünfhundertsechsundvierzig! Ach, manche nehmen kaum ein Blatt in Anspruch, und andere wieder ergeben ein ganzes Buch.«
»Und wozu benutzen Sie die?«
»Ich verwende sie immer, wenn auf dem Platz Recht gesprochen wird. Das Urteil fällt vielleicht weniger hart aus, wenn ich meinem Volk erzähle, wie es zu der Tat gekommen ist.«
»Einen Augenblick.« Ayse denkt kurz nach. »Aber dann sind Sie ja so eine Art … Wie heißt so jemand bei uns noch mal? Ach ja … Rechtsanwalt?«
»Oh, habt ihr dafür so ein schönes Wort? Wie nett.«
»Und eigentlich sind Sie auch ein bisschen ein Arzt.« Ayse deutet auf die Fläschchen.
»In bestimmten Ländern, durch die ich gereist bin, hat man mich als Medizinfrau bezeichnet, in anderen als Hexe.« Ika lächelt. »Oder etwas abfälliger: als Kräuterweib. In manchen Ländern sagen die Leute Doktorin, Zauberin, Seherin. Ich bin schon alles genannt worden. Mir macht das nichts aus, ich passe auf, ich höre zu und ich verstehe, ich sehe und kuriere.«
»Dann sind Sie bedeutend?«
»Ich war die Bedeutendste für mein Volk, aber das ist sehr lange her. Weißt du was?« Ika lacht freundlich, greift nach einer altmodisch aussehenden Schreibfeder und zieht sich das Tintenfässchen heran. »Jetzt schauen wir erst mal, ob du eine gute Geschichte hast.«
»Ich gehe mit dir«, sagt Micky entschieden. »Dieser Kivan lauert dir bestimmt auf.«
Tio wirft ihr einen dankbaren Blick zu. »Wenn du das wirklich willst? Gerne!«
Micky klopft auf Tios Rucksack, den er sich als Ersatz für den alten aus einem Laden geholt hat. »Natürlich. Geld haben wir mehr als genug. Wir müssen nur noch die Bürgschaft bezahlen, und deine Freundin ist wieder auf freiem Fuß.«
Vergnügt begibt sich Tio wenig später mit seiner neuen Gefährtin auf den Weg nach Terrasse. Das Einzige, was ihn stört, ist das Wetter: Es fällt ein leichter Nieselregen. Doch es ist nicht kalt, die Wärme der letzten Tagen hat sich zwischen den Hügeln gehalten; es ist sogar drückend, was oft ein Unwetter ankündigt. Ab und zu bricht ein goldener Sonnenstrahl zwischen den zusammengeballten Wolken durch und zaubert einen Glanz auf das Gras am Wegrand. Wagen fahren ratternd vorbei, und ihnen wird mehrfach freundlich zugenickt, als ob alle an diesem schwülen Nachmittag guter Stimmung wären. Micky kommt auf die Idee, den Daumen hochzuhalten.
»Ach ja, per Anhalter, kennen sie das hier auch?«, fragt Tio, aber Micky braucht gar keine Antwort zu geben, denn ein alter, klappriger Wagen vermindert prompt das Tempo, und eine freundliche Dame fragt sie: »Nach Terrasse? Klettert rauf.«
Innerhalb von Minuten erreichen sie den Rand der Runjistadt.
»Wir müssen zum Maile Dhun, da muss es irgendwo so eine Art Schalter geben.« Tio geht voran zu der Seite des hohen Gebäudes, wo er den offiziellen Eingang vermutet. »Wir dürfen nicht mehr bei den Gärten rauskommen, da ist mir beim letzten Mal das Ekel in die Quere gekommen!«
»Wenn man vom Ekel spricht …«, flüstert Micky und packt Tio am Arm. »Ist er das etwa?«
Tio bleibt erschrocken stehen. Die letzte Brücke, über die sie noch müssen, wird auf halbem Weg von drei Jungen versperrt. Zwei von ihnen lehnen nur unbeteiligt am Geländer, aber der dritte steht breitbeinig und mit verschränkten Armen mitten auf der Brücke, als hätte er sie erwartet.
Tio wird blass. »Sonst war er immer allein, aber offenbar …«
Micky lacht höhnisch. »Was so ein bisschen Geld nicht alles bewirken kann. Das Geld, das er dir gestohlen hat. Wetten, dass er damit die große Show abgezogen hat?«
»Aber er kommt doch aus einer Familie, die ziemlich reich ist … glaube ich wenigstens.«
»Das will nicht heißen, dass er auch über den
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