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Zwischenwelten (German Edition)

Zwischenwelten (German Edition)

Titel: Zwischenwelten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mariëtte Aerts
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Freunds. Wo ist er? Nun beginnen nicht nur die Wächter, sondern auch die anderen Gefangenen, böse auf sie einzuzischen. Als sie endlich die Mittelterrasse erreicht haben, wo die Urteile und die Vergehen aller Gefangenen verlesen werden, ist sie den Tränen nahe.
    Ayse hat das Gefühl, dass es Stunden dauert, bis sie endlich an der Reihe ist. Ihr Vergehen und ihre Strafe werden laut und deutlich verkündet, sowohl auf Runji als auch in vielen anderen Sprachen. Sobald sie die Worte in ihrer Sprache hört, kann sie nicht anders und schreit: »Ich hab doch gar nicht gewusst, dass das so eine besondere Quelle ist. Ich finde es lächerlich, dass ich …«, doch da stößt sie eine Mitgefangene mit gefesselten Händen in die Seite. »Halt doch den Mund«, fährt die Frau sie an. »Mit dem Geschrei machst du es nicht besser. Erreg bloß keine Aufmerksamkeit.« Sie deutet um sich auf die Menge, die sich versammelt hat und kopfschüttelnd schockierte Kommentare abgibt. »So behalten sie dich nur in Erinnerung. Sieh besser zu, dass du nicht auffällst.«
    Ayse beißt die Zähne zusammen und sagt nichts mehr. Etwas später setzt sich der Zug wieder in Bewegung.
    Zum Glück werden die Gefangenen von den Zuschauern weder beschimpft noch mit Gegenständen beworfen, wie Ayse befürchtet hat. Sie hat sich schon von Steinen und faulen Fischen getroffen gesehen, doch nichts davon geschieht. Trotzdem fühlt sie sich elend und hofft, dass sie möglichst bald in ihre Zelle zurückgebracht wird.
    Die Prozession ändert jetzt die Richtung. Ayse erinnert sich: der Wassertempel. Hatten ihre Wärter nicht gestern Abend darüber gesprochen? Wirklich, sie gehen in die Richtung. Ob sie wohl das Badehaus noch einmal von innen sehen kann? Vielleicht kommt sie dann endlich dahinter, wofür genau der Tempel eigentlich benutzt wird. Neugierig, wie sie ist, muntert sie diese Vorstellung ein kleines bisschen auf.
    Ayse erkennt das hohe halbrunde Tor, durch das sie schon mit Tio gegangen ist. Der gewundene Gang, die Verzierungen an den Wänden und dann die Tür, die in den hohen hellen Raum führt, in dem sich das geflieste Bad befindet.
    Die Maile geht auf eine Art Thron zu, der von Form und Material her völlig dem im Speisesaal entspricht, wo Tio und Ayse bereits waren. Nur ist der hier noch viel größer. Die Maile setzt sich, während die Gefangenen auf beiden Seiten von Ayse anfangen, die Bänder ihrer Schuhe zu lösen.
    »He … ich zieh mich aber nicht nackt aus«, sagt Ayse erschrocken. Unbehaglich schaut sie sich um.
    Die Frau, die sich schon vorhin an sie gewandt hat, schüttelt den Kopf. »Nur die Schuhe.«
    »Wozu soll das gut sein?«, will Ayse wissen.
    »Es ist ein Reinigungsritual.« Die Frau deutet auf das flache Becken. »Die Runji glauben, dass das Wasser aus der Quelle das Böse aus den Menschen wegzaubert. Du kannst dich da auf eine der Bänke am Rand des Beckens setzen. Sieht du die Holzschüsseln? Wer will, kann eine nehmen und sich Wasser aus dem Tempelbad schöpfen. Du kannst davon trinken, es dir über die Füße gießen oder das Gesicht damit abtupfen, wie du willst.« Sie senkt die Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern. »Den Runji ist ihr Glaube an die Zauberkraft des Wassers sehr ernst, und einige Runjigefangene gießen ganze Schüsseln Wasser über sich aus, um von ihren Sünden befreit zu werden. Die Maile und ihr Gefolge legen darauf großen Wert, denn es bedeutet, dass man bereut und einen neuen Anfang machen will. Es kommt immer wieder vor, dass ein Gefangener, der Reue zeigt, sogar freigelassen wird.«
    Ayse geht zu einer Bank und setzt sich. Eine Weile blickt sie auf das Wasser in dem flachen Becken. Unwirsch sieht sie dann zu einem Gefangenen neben sich, der schuldbewusst vor sich hin murmelnd kleine Schlucke von dem heiligen Wasser trinkt. »Lieber sterbe ich, als dass ich davon auch nur einen Schluck nehme.«
    Sie schaut hoch und fängt den Blick der Maile auf, der direkt auf sie gerichtet ist. Ayse guckt stolz und herausfordernd zurück. Sie sieht, wie die Augenbrauen der Maile sich heben, und steht auf. Hinterher wird sie sagen, dass es ein Anfall von geistiger Verwirrung war. Oder Zorn. Denn wenn es jemanden gibt, der ordentlich wütend werden kann, dann ist es Ayse. Sie tritt vor und steigt einfach so, mit Sandalen und allem, in das Wasserbecken. Dabei bohrt sich ihr Blick in die Augen der Maile. »So. Jetzt ist das ja sicher erlaubt. Gestern bin ich dafür ins Gefängnis geworfen worden, und jetzt

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