Zwischenwelten (German Edition)
streckt Ayse die Hand hin.
Vorsichtig streckt Ayse auch ihre Hand aus. Was hatte Tio ihr noch mal erzählt über die seltsame Art, wie sich die Runji die Hand schütteln? Aber die kleine Dame nimmt ihre Hand und schüttelt sie, wie Ayse es gewöhnt ist. Als sie Ayses verblüfftes Gesicht sieht, fängt sie wieder an zu lachen. »Ich kenne die Gewohnheiten der meisten Völker. Und du kommst mir so vor, als würdest du die Hand wie die Salzländer schütteln. Stimmt’s?«
»Hm, schon«, meint Ayse. »So machen sie das bei uns auch, ja.«
»Erzähl mal, wo kommst du her?«
Ayse schluckt und räuspert sich. »Also … wir sind Reisende … Ich, äh, komme … eigentlich von überall und nirgends her.«
»Interessant. Und was machst du hier?«
»Hier in diesem Zimmer?«, fragt Ayse verwirrt. »Ich bin doch nicht zum Spaß hier. Ich bin hergebracht worden.«
»Ja, das hab ich gesehen. Von einer Wächterin. Demnach bist du eine Gefangene. Ich mach dir mal die Hände los. Bist du das Mädchen, das in die Quelle getreten ist? Ich habe von dir gehört. Die Runji scheinen dich nicht sehr zu beeindrucken. Unsere Gebräuche gefallen dir nicht, du findest sie unangenehm, und du willst nicht mit ihnen konform gehen.«
»Konf… Ich weiß nicht, was das ist, aber wenn Sie meinen, dass ich mich weigere, in dem verrückten Badehaus mit Wasser in einer Holzschüssel rumzuspritzen in der Hoffnung, dass ich damit von meinen Sünden gereinigt werde, dann kann das hinkommen, ja!« Ayse erschrickt selbst über ihre bösen Worte.
Doch die Dame lacht. »Wir Runji glauben fest und sicher an die reinigende Kraft unseres Wassers. Aber meine Tochter ist ein bisschen strenggläubig, das darf man ihr nicht zu sehr verübeln. Sie ist die erste Maile und muss ihre Vorschriften und Gesetze nach und nach überdenken und angleichen. Früher waren wir ein reisendes Volk – genau wie deines. Nun, wo wir uns niedergelassen haben und bleiben wollen, müssen wir uns die Gesetze einer Stadt zu eigen machen und viele von unseren früheren Sitten und Gebräuchen über Bord werfen. Das Wasser ist dessen ungeachtet noch immer heilig und soll es auch immer bleiben.«
Ayse lehnt sich gegen den Tisch und streicht mit den Fingern der linken Hand vorsichtig über das Holz.
»Nimm dir einen Stuhl und setz dich.«
Ayse schaut sich um, sieht eine Art Schemel und zieht ihn heran. »Wie soll ich Sie nennen?«
»Ika«, wiederholt die Frau ihren Namen. »Maile-Glan ist mein Rang und meine Funktion.«
»Darf ich raten? Das Wort bedeutet, dass Sie die Mutter der Maile sind. Und als Maile-Mutter sind Sie …«, sie deutet auf die Papierstapel, »… eine bedeutende Person?«
Ika reibt sich die Hände. »Du bist ein kluges Mädchen!«
Ayse lässt ihren Blick über ein paar Gegenstände auf dem Schreibtisch gleiten. Da gibt es mehrere Glasfläschchen mit unterschiedlich farbigem Inhalt und Stapel mit handbeschriebenem Papier. Sie bemerkt, dass die Maile-Glan dunkelgrüne Tinte benutzt. Ayse lässt ihren Blick weiter durch den kleinen Raum wandern. An den Wänden hängen fremdartige Masken, die an afrikanische Schnitzereien erinnern. Noch erstaunlicher kommen ihr einige Tierskelette und elfenbeinartige Hörner vor. Das Ganze wirkt wie das Arbeitszimmer eines alten Entdeckungsreisenden. »Haben Sie das alles selbst gesammelt, als Sie noch gereist sind?«, fragt sie.
Ika breitet die Arme aus. »Einiges schon, aber das meiste ist noch älter, von vor meiner Zeit. Ich hänge sehr daran.«
An einer Kette von der Decke baumelt eine Art Sturmlaterne, die leicht hin und her schaukelt. Eine Weile folgt Ayse dem schwankenden Ding mit den Augen, dann schaut sie wieder zu den runden Fenstern und stellt fest: »Das hier ist noch ein echtes Boot.«
Ika klatscht in die Hände. »Gut erkannt! Ach ja, einige von uns können die alten Vorlieben einfach nicht aufgeben. Mit diesem Schiff habe ich die halbe Welt bereist. Ich kann mich nicht von ihm trennen. Auch wenn ich jetzt eingebaut und eingeklemmt zwischen all den verrückten Wohnflößen stecke, die sich noch nie auch nur einen Meter von der Stelle bewegt haben, genieße ich jeden Moment die Illusion, wegfahren zu können, wann immer ich das möchte.«
Eine Weile bleibt es still. Ayse hat das Gefühl, dass die Frau sehr daran interessiert ist, mehr über sie, Ayse, zu erfahren. Als sie aufschaut, treffen sich ihre Blicke. »Warum bin ich hier?«, fragt Ayse neugierig.
»Ich vermute, dass du zu mir gebracht worden bist,
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