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Zwölf im Netz

Zwölf im Netz

Titel: Zwölf im Netz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adalbert Seipolt
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Moral, habe ich noch nicht gehört.«
    »Nicht so wörtlich. Um Gottes willen, sämtliche Obrigkeiten würden ihn in der Luft zerreißen. Er predigt von Umkehr und Buße, sagt man, aber auch vom Himmelreich, und er lacht, er tanzt und trinkt sogar. Der Weinkonsum auf der Hochzeit, an der er teilnahm, schlug alle Rekorde. Mann Gottes, wenn ich daran denke, daß ich eigentlich auch eingeladen war und nur wegen einer privaten Wut nicht hingegangen bin...«
    »Das kannst du nachholen«, sagte der Fremde, »nicht die Hochzeit, aber ihn hören und sehen. Er wird nämlich heute in Kapharnaum erwartet.«
    »Toller Glücksfall! Den hören wir uns an, Simon!«
    Simon nickte.
    »Und wenn er gegen die Römer wettert, machen wir mit.«
    »Warum gegen die Römer?« fragte der Fremde.
    »Die Leute warten schon längst darauf, vielleicht nicht alle, aber die, auf die es ankommt. Verheißungsvolle Andeutungen hat dieser Jesus nämlich schon gemacht: »Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert.« Ein wahrhaft anschaulicher, unmißverständlicher Satz. Konfrontation, nicht Kooperation würden sich unsere Eierköpfe ausdrücken.«
    »Meines Wissens erwähnte dieser Jesus die Römer nicht in solchem Zusammenhang«, gab der Fremde zu bedenken. »Es wäre auch dumm, wo doch in jeder Synagoge ihre Spitzel sitzen. Aber er hat sie so deutlich ausgespart, daß es jedem auffallen mußte, der nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit dem Verstand zuhört.«
    »Und wenn er heute predigen sollte: — Liebet eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen«?«
    »Dann soll er bleiben, wo der Pfeffer wächst. Aber vor solch schlapper Weibermoral wird er sich hüten. Unsere Feinde sind da, um erledigt zu werden, weil es zugleich Gottes Feinde sind. So steht es in der Schrift! Frag mal meinen Freund hier, nach seinem Leib- und Magengebet: dem 58. Psalm. Den betet er nur gegen die Römer:
    O Gott, zerbrich ihnen die Zähne,
    zerschlage, Herr, das Gebiß der Löwen!
    Sie sollen vergehen wie rinnendes Wasser,
    wie Gras, das auf dem Wege verwelkt,
    wie die Schnecke, die sich auflöst in Schleim.
    Ja, es gibt einen Gott, der auf Erden Gericht hält.«
    Für den letzten Vers machte sogar Simon den Mund auf und sprach ihn inbrünstig mit.
    »Klingt für zarte Ohren zu kraß«, fuhr Judas fort, »aber genau das ist der Geist, der Israel in seinen größten Tagen beseelt und den es bitter nötig hat. Und ich hoffe, daß dieser Jesus uns diesen Geist wieder einbläst. Stimmt's, Simon?«
    »Schön wär's«, brummte Simon.
    »Bei ihm verstehe ich's«, sagte der Fremde und deutete auf Simon, »aber was haben dir die Römer angetan?«
    »Unser Land erobert und besetzt. Genügt das nicht, um sie zu hassen?«
    »Mir nicht«, sagte der Fremde.
    »Dann hast du noch niemals ihre Faust zu spüren bekommen.«
    »Haben sie dich persönlich angegriffen?«
    »Angegriffen ist gut gesagt.« Judas lachte bitter, dann wandte er sich an Simon: »Soll ich's ihm erzählen?«
    Simon zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: Was fragst du mich? Du bringst es ja sowieso nicht fertig, über die Sache zu schweigen.
    Und Judas erzählte. »Ich hatte eine Braut, der Name ist nicht mehr wichtig. Wir waren seit drei Monaten verlobt und wollten bald heiraten. Eines Tages — ich war draußen auf dem See — kommt so ein lackierter römischer Leutnant zu ihrem Vater ins Geschäft, flötet ihr Komplimente vor, sie findet Spaß daran, und nach den üblichen Versprechungen läßt sie sich erstens verführen, zweitens entführen, Richtung Tiberias. Eine Zeitlang gefällt sie ihm noch, dann reicht er sie weiter, von Kamerad zu Kamerad; doch als die Truppe nach Tyrus weiterzieht, haben sie keinen Platz für sie und lassen sie buchstäblich auf der Straße sitzen. Und sie schleicht heulend zurück, mit einem Römerbalg im Bauch, vierter Monat. Jetzt spucken ihr die Gassenjungen vor die Füße.«
    »Und du nimmst sie nicht wieder zu dir?«
    »Verrückt müßte ich sein. Einmal abgerutscht, für immer abgerutscht!«
    »Und du vergibst ihr nicht?«
    »Vergeben? Sie tut mir leid. Ich stecke ihr auch Geld zu, heimlich, aber ins Haus darf sie nicht.«
    »Und wovon lebt sie?«
    »Vom Betteln, wie alle anderen, wenn sie ihr Handwerk nicht mehr ausüben können. Aber sprechen wir nicht von ihr, sie verdient es nicht.«
    »Doch«, entgegnete der Fremde mit unvermuteter Härte, »sprechen wir von ihr. Hältst du es für ausgeschlossen, sie so zu heilen, daß sie nicht mehr

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