Zwölf im Netz
Silberstücke das Pfund verkaufen. Hechte, damit meine ich Zehnpfünder der Frömmigkeit und Gelehrsamkeit wie unsere Pharisäer und Schriftgelehrten. Doch der Meister zog das Kroppzeug vor, ungehobelte Burschen wie Andreas und mich, Weiberhelden wie Philipp, Langweiler wie meinen Bruder Jakob. Bald nach der Hochzeit stießen noch gescheiterte Existenzen wie Simon der Zelot, Betriebsnudeln wie Levi und Kritikaster wie Thomas hinzu.«
»Jetzt hören Sie mal, Alter«, wandte Polykarp ein, »so madig brauchen Sie Ihre Freunde nicht zu machen. Ich finde, es sind prima Kerle, einer wie der andere, obwohl keiner wie der andere ist. Es wäre einfach toll, wenn wir solche Kerle in unserer Clique hätten.«
Johannes nahm wieder einen Schluck zu sich. »So meinte ich es auch gar nicht, Poly. Alle hatten ihre guten Seiten, sonst hätte uns der Meister nicht erwählt. Ich meine nur, daß wir alle recht durchschnittliche Typen waren, wie du sie in jedem Dorf in Galiläa antreffen konntest. Ein Kirchenlicht oder besser: eine Tempelleuchte war nicht dabei. Allenfalls Natanael besaß das nötige Talent, um Führungsaufgaben im Reiche Gottes zu übernehmen, Ja, und Simon Petrus das nötige Temperament. Wir andern führten uns eher wie Schulbuben auf und stellten kaum die zuverlässige Mannschaft dar, die Jesus brauchte. Wenn wir über die staubigen Landstraßen wanderten, unrasiert und fern der Heimat, glichen wir eher einem vergammelten Landserhaufen als einer messianischen Elitetruppe — obwohl die Stimmung stets die beste war. Und welch haarsträubenden Slang wir untereinander verwendeten — nicht wohlgesetzte Worte, wie ich sie dir diktiere. Ausgenommen Judas aus lskariot, dem einzigen städtischen Ziervogel unter uns Wildenten und vielleicht noch Philipp. Was der konnte — Griechisch und Latein — mußte ich in Ephesus erst mühsam erlernen.«
»Durchaus mit Erfolg«, bemerkte Polykarp spitzbübisch, »nur im Gebrauch des prädikativen Partizips sind Sie manchmal ein bißchen wacklig, aber fester als ich im Ablati-vus absolutus.«
Auf dem Kaystros fuhren die ersten Fischerboote auf. Sie hatten Segel gesetzt und trieben im leichten Abendwind dem
Meer entgegen. Johannes freute sich jeden Tag auf diesen Anblick. Er machte den Jungen darauf aufmerksam. »Ist das nicht schönt Und sogar spannend. Der mit dem gelben Segel überholt alle anderen. «
»Naja«, antwortete Polykarp mit jugendlicher Nachsicht, »Pferderennen sind spannender. Ich könnte nie hier draußen wohnen.«
»Mußt du auch nicht. Im Gegenteil, es wird Zeit, daß du nach Hause kommst. Nimm das Schreibzeug mit, wir brauchen es nicht mehr.«
»Sie jagen mich fort?«
»Ich jag dich doch nicht fort, aber die Nacht bricht herein, und da hat ein braver Sohn zu Hause zu sein. Was sagt sonst dein Vater?«
» Dasselbe, was Ihr Vater gesagt hat, als Sie über Nacht bei Jesus blieben.«
»Ihr lernt zuviel Dialektik am Gymnasium«, sagte Johannes belustigt. »Meinetwegen bleib noch eine Weile hier. Es wird aber abends recht kalt am Wasser, und du trägst nur ein dünnes Hemd am Leibe.«
»Erstens gibt es in der Hütte Decken und zweitens könnten wir ein Feuer machen. An trockenem Gras und dürren Ästen fehlt es nicht.«
»Soso, du kluges Großstadtkind«, spottete der Alte, »womit willst du Feuer machen? Rufst du den Prometheus zu Hilfe oder flehst du Zeus persönlich an, einen wohlgezielten Blitz herabzusenden?«
»Weder noch«, antwortete Polykarp mit philosophischem Gleichmut, »das kluge Großstadtkind wendet sich an den erfahrenen Fischer vom galiläischen Meer.« Er reichte ihm zwei Kieselsteine und schaute gespannt zu, wie Johannes aus den Steinen Funken schlug und damit das trockene Grasbüschel in Flammen setzte.
»Einfach toll, wie Sie das machen, mit über 80 Jahren«, rief Poly anerkennend aus. »Man sieht, gelernt ist gelernt.« Johannes freute sich selber über das gelungene Feuerwerk; ein bißchen hatte er gezweifelt, ob er es mit gewöhnlichen Kieseln schaffen werde.
»Unterhalten mußt das Feuer aber du, Poly.«
» Einverstanden, und Sie unterhalten mich?«
»Für dich mag es eine angenehme Unterhaltung sein, die deine Neugier befriedigt. Für mich ist es mehr. Alles gewinnt wieder Leben, jeder Tag, jedes Gesicht, jeder Schritt, was über ein halbes Jahrhundert zurückliegt.«
»Aber nicht vergangen ist. Das betonen Sie selbst immer wieder. Besitz für immer, hat der alte Thukydides gesagt, und er meinte dabei nur seine dicke Schwarte
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