Zwölf im Netz
sündigt?«
»Für völlig ausgeschlossen. Alle Erfahrung spricht dagegen. Oder weißt du ein Gegenbeispiel?«
Der Fremde deutete voraus zum Ufer, wo Kapharnaum lag. »Dort«, sagte er, »vorgestern. Jesus von Nazareth heilte sie.«
»Wie soll ich das verstehen: heilte?«
»Er vergab ihr und sie versprach, nicht mehr zu sündigen.«
»Versprechen tun die Weiber alles mögliche. Vorgestern? Das heißt: achtundvierzig Stunden. Und da sprichst du von Heilung? Ich meine, man müßte da mindestens ein ganzes Jahr abwarten, ob sie nicht rückfällig wird. Jedenfalls laß ich mich auf ein solches Experiment nicht ein, eine Frau mit einem Kind, das einen Unbekannten zum Vater hat! Kein vernünftiger Mann wird eine solche zu sich nehmen.«
»Mein Vater war so unvernünftig«, sagte der Fremde leise, »genauer gesagt, mein Pflegevater, denn das Kind bin ich.«
»Entschuldige«, sagte Judas, sichtlich verlegen über das unerwartete Geständnis. »Ich wollte deine Mutter nicht beleidigen; sicher liegt der Fall etwas anders.«
»Von ihrer Seite völlig anders«, sagte der Fremde leise.
»Aber in unserer Familie hält man viel auf Ehrbarkeit. Soweit sich unsere Großeltern zurückerinnern können, hat es da niemals... ich will dich jetzt nicht kränken, du verstehst schon, was ich meine. Und deswegen ist es ganz ausgeschlossen, daß ich Ruth zu mir ins Haus nehme und heirate. Aber lassen wir das peinliche Thema. Schau lieber zum Ufer! Da muß was los sein. Diese Menschenmassen warten wohl alle auf den Rabbi aus Nazareth? So viele Neugierige strömen ja nicht einmal zusammen, wenn Herodes mit seiner Luxusjacht aufkreuzt, um Enten zu schießen. Reist denn dieser Rabbi auch mit einem Schiff an?«
»Mit einem Fischerboot vielleicht«, sagte der Fremde. »Darum schreien sie und winken jedesmal, sobald eines auftaucht.«
»Ja, man hört es ganz deutlich: >Rabbi Jesus, Rabbi Jesus!< Wie bei den Tierhetzen im Zirkus von Tiberias. Diese Irrläufer«, lachte Judas, »jetzt zeigen sie auf uns. Als ob in unserem Boot der Rabbi Jesus säße.«
»Er sitzt wohl drin«, sagte Simon. »Du bist es, Fremder, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Jesus.
»Du bist es?« Judas kippte fast aus dem Boot vor Überraschung. »Und du hast es von Anfang an gewußt, Simon, und mich so im unklaren gelassen?«
Simon schüttelte den Kopf. Von Anfang an hatte er gar nichts gewußt, aber im Laufe des Gespräches war es i hm aufgegangen.
Als Judas das Gleichgewicht wiedergewonnen hatte, blickte er Jesus ernst an und fragte: »Dann war wohl sie es, der du vorgestern die Sünde vergeben hast?«
»Ruth, die Tochter Phanuels, deine Braut. Ja, ich habe ihr vergeben.«
»Aber dafür bist du doch gar nicht zuständig«, brach es aus Judas hervor, »wenn hier einer zu vergeben hat, bin ich es.«
»Und Gott, Judas.«
»Jawohl, und Gott! Aber nicht du!«
Jesus schwieg. Judas hätte eine Antwort sowieso nicht verstanden; denn inzwischen hatten die Leute am Ufer Jesus deutlich erkannt, schwenkten die Hüte, warfen bunte Tücher in die Luft, hoben die Kinder hoch und schrien sich vor Begeisterung die Kehlen heiser. Männer zogen das Boot ans Ufer. Hundert Hände streckten sich Jesus entgegen, um ihm beim Aussteigen behilflich zu sein. Jeder wollte wenigstens sein Gewand berühren.
Es dauerte lange, bis einige Männer ihm freie Bahn schaffen und zur Synagoge geleiten konnten, wo der Vorstand, die Schriftgelehrten und Pharisäer ihn erwarteten. Sie grüßten ihn höflich, nur wenige ließen sich anmerken, welche Gefühle sie gegen ihn hegten. Der Vorsteher reichte ihm sogar die Hand und murmelte etwas von »Der Herr segne deinen Eingang und deinen Ausgang«. Das Volk drängte mit Macht nach, die Synagoge füllte sich bis auf den letzten Platz. Simon und Judas hatten das Boot am Ufer festgemacht und gelangten als letzte zur Synagoge. Vor dem Eingang standen die Menschen dichtgedrängt. Zum Glück sprach Jesus so laut, daß seine Worte auch draußen zu vernehmen waren. Auf einmal rannten aus einer Gasse zwei Männer mit einer Bahre herbei, auf der ein Kranker lag, in fleckige Leintücher gewickelt. Die Träger keuchten und fluchten, als sie das Portal von Menschenmassen zugestellt sahen. Ein Durchkommen schien unmöglich. Sie würden warten müssen, bis Jesus seine Predigt beendet und die Masse sich verlaufen hatte. Eine Stunde, zwei oder drei. Sie redeten erregt auf den Kranken ein ; der jammerte und stöhnte, so lange halte er es auf der harten Bahre nicht aus.
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