Zwoelf Schritte
korpulente Weihnachtsmann schamlos auszunutzen weiß. Nachdem er zwanzig Minuten über seine Fehler geredet hat, ohne auch nur einen Hinweis darauf zu geben, wie er damit umgeht, platzt mein Kopf fast. Ich mustere die anderen Leute, um meine Gedanken zu zerstreuen und mich von meiner Wut abzulenken. Geir sitzt am anderen Ende des langen Tisches. Ich habe ihn nicht bemerkt, da ich zu beschäftigt gewesen bin, dem Platzdieb einen bösen Blick zuzuwerfen. Geir blinzelt mir lächelnd zu, wirft einen Blick auf den Weihnachtsmann und schneidet eine Grimasse. Meine Wut lässt sogleich nach, weil ich einen Seelenverwandten am Tisch habe, der auch unter den Erzählungen über die Fress- und Sexsucht des Dicken leidet.
Geir und ich umarmen uns nach dem Meeting, und er fragt mich mit einem Grinsen, ob ich das von eben nicht auf meiner Verdrussliste anführen müsse.
«Doch!», knurre ich. «Leute, die fast die gesamte Sitzungszeit für sich in Anspruch nehmen.»
«Das ist der Grund, warum wir in unserer Gemeinschaft ein Zeitlimit setzen», erklärt er. «Aber wie läuft es mit dem Formular?»
«Ich bin eigentlich fertig damit», antworte ich. «Vielleicht hast du Lust, auf einen Kaffee mit zu mir zu kommen, um die Sache abzuschließen?»
Wir gehen zusammen durch das Þingholt-Viertel. Der Nordwind hat sich etwas gelegt, und es herrscht ruhiges Frostwetter. Es riecht nach gebratenem Lammfleisch, und ich stelle mir vor, wie ich mit Iðunn in einem kleinen Holzhaus wohne: Der Sonntagsbraten gart im Ofen, und wir spielen auf dem Boden mit Baldur. Er wäre jetzt alt genug für Lego. Später am Nachmittag würde ich mit ihm ins Kino gehen, während Iðunn sich hinlegt, und auf dem Heimweg würde ich ihm erlauben, so viel Eis zu essen, wie er will.
«Ich bin fast explodiert, so genervt war ich», sage ich, um die Gedanken wieder auf realere Themen zu lenken. Es ist einfach, dem Schmerz mit Wut zu begegnen.
«Ja, er ist ein etwas schwieriger Charakter, dieser Kerl», antwortet Geir.
«Ich hätte ihm vielleicht mehr Geduld entgegengebracht, wenn er sich nicht gleich zu Anfang meinen Sitzplatz unter den Nagel gerissen hätte.» Ich muss lachen.
«Er hat dir den Sitzplatz weggenommen?» Geir ist erstaunt und findet das anscheinend nicht witzig.
«Ja, ich hatte mich bereits hingesetzt, als er kam. Er sagte, dass er für gewöhnlich auf diesem Platz sitzen würde und ich einem alten Mann Platz machen sollte. Später habe ich dann kapiert, dass er nur deswegen dort sitzen wollte, um als Erster dranzukommen.»
«Ich habe ihn schon oft zu einem Meeting in unserer Gruppe eingeladen, doch das würde bedeuten, dass er tatsächlich etwas in seinem Leben verändern müsste. Nicht nur dasitzen und darüber reden, wie mies es ihm geht», sagt Geir, und ich höre, dass auch er von dem Kerl genervt ist. «Ich kann dennoch kaum glauben, dass er dir den Sitzplatz weggenommen hat!», fügt er hinzu, und wir brechen beide in Gelächter aus. Es ist eine Erleichterung zu lachen, die Irritation scheint wie weggeblasen.
«Hier wohne ich», sage ich und stecke den Schlüssel ins Schloss.
Ich fülle die große Espressokanne mit Kaffeepulver und nehme aus dem Gefrierfach eine Tüte mit Zimtschnecken, wärme sie in der Mikrowelle auf und stelle sie auf den Tisch. Geir überfliegt meine Verdrussliste und bittet mich, jeden einzelnen Punkt zu erläutern. Es wundert mich, wie schwer es mir fällt, über Baldurs Geburt und Tod zu sprechen und über den Liebeskummer, als Iðunn mich verlassen hat. Mir wird klar, dass ich es immer vermieden habe, schwierige Themen anzusprechen. Der Schmerz, der sich in meinem Magen ausbreitet und sich durch meinen Hals nach oben drückt, ist stärker als gewöhnlich, und in mir schießt das Verlangen hoch, ein paar kalte Bier in mich hineinzukippen und den Fernseher anzuschalten.
«Es ist schwierig, sich seinem Schmerz nüchtern zu stellen», sagt Geir, als ob er einmal mehr wisse, was in mir vorgeht. «Aber das ist die notwendige Voraussetzung, dass du ihn eines Tages verarbeiten kannst.» Wir gehen die Liste weiter durch, und ich erzähle ihm, wie mich mein Vater mit seiner Trinksucht wütend gemacht hat, wie meine Mutter vom Schmerz abhängig zu sein schien und sich lieber mit ihrem Ehemann gestritten hat, als sich um Egill und mich zu kümmern.
«In den Augen der Kinder sind die Eltern die höhere Macht», sagt Geir, «und wenn sie ihren Eltern nicht vertrauen können, zerstört es das Vermögen der Kinder, an
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