Zwoelf Schritte
lächeln. Er geht voraus den Flur entlang, und das Parkett knarrt unter seinem Gewicht. Wenn seine Vorväter vom selben Kaliber gewesen sind wie er, ist es einfach zu verstehen, warum die Wikinger bei Irland einen Zwischenstopp eingelegt haben, um Sklaven mitzunehmen, und warum die Polizeischule ihn genommen hat. Sie hatte schon immer eine Schwäche für Kraftprotze. Njörðurs Büro ähnelt dem von Iðunn, ein mittelgroßer Raum mit Linoleumboden und grauen Jalousien. Der gleiche Schreibtisch, außer dass der von Njörður mit unzähligen Papierstapeln übersät ist. Auf dem Fensterbrett erblicke ich einen halbtoten Kaktus, und auf dem Drucker in der Ecke stehen, wenn ich recht gezählt habe, sieben schmutzige Tassen.
«Bjarni Jóhannes Jónsson», sagt er, als ob es sich um einen lebendigen Menschen handelte, als er Iðunn die Mappe über den Tisch reicht. Wie die Mappe mit den Bildern von Jón Ágúst ist sie aus braunem Karton. Iðunn öffnet sie und überfliegt das erste Blatt. Von meinem Sitzplatz aus kann ich die kleinen Buchstaben nicht entziffern. Dann schaut sie die Bilder durch, die ich besser erkennen kann, als mir lieb ist. Ein junger Mann liegt tot in der Badewanne, der Kopf unter der Wasseroberfläche, der Körper aufgedunsen. «Wir haben zuerst gedacht, dass es ein Unfall war», sagt Njörður, «zu viele Pillen vor dem Entspannungsbad, ihr wisst schon. Doch dann haben wir das gefunden.» Er reicht mir ein altmodisches Schreibheft. «Wir haben angenommen, dass es Selbstmord war. In dem Heft steht, was der Lump in seinem Leben alles falsch gemacht hat, mitsamt einer Auflistung seines beschissenen Charakters. Da steckt ziemlich viel Selbstverachtung drin.»
«Das ist kein Beweis für Selbstmord», sage ich, nachdem ich die ersten Seiten durchgeblättert habe. «Das ist der fünfte Schritt, das Geständnis.»
«Was meinst du damit?», fragt Njörður interessiert.
«Die Schritte der AA . Beim fünften Schritt soll man seinen eigenen Fehlern ins Auge schauen und sie ohne Zögern seinem Vertrauensmann und Gott gegenüber zugeben. Das soll einen aus den Fängen der Vergangenheit befreien.»
Njörður und Iðunn betrachten mich einen Augenblick schweigend, als ob sie das Gehörte erst verdauen müssten.
«Das stimmt mit den Ergebnissen der Ärzte überein, denn die nachweisbare Menge an Medikamenten in seinem Blut hätte nicht ausgereicht, in der Badewanne zu ertrinken oder sich umzubringen.»
«Gab es keine äußeren Verletzungen?», fragt Iðunn.
«Nicht, soweit wir feststellen konnten, aber nach drei Tagen bei Raumtemperatur im Wasser … da ist es schwieriger, gewisse Fakten auszuschließen … du weißt schon. Aber die Todesursache ist Ertrinken. Das ist eindeutig.» Sie blättern weiter in den Unterlagen, Iðunn ist in die abstoßenden Fotos vertieft, und Njörður liest im Geständnisheft.
«Was, wenn ein verrückter Alki umgeht und trockene Alkoholiker umbringt?», sage ich in die Stille hinein. Sie heben beide den Blick, und nach ihrem Gesicht zu urteilen, habe ich meinen Gedanken nicht klar genug formuliert.
«Meinst du einen Serienmörder?», fragt Njörður und mustert mich, als ob ich ein Außerirdischer sei.
«Ja, vielleicht.» Verlegen und hilfesuchend schaue ich Iðunn an, doch sie weicht meinem Blick aus und vertieft sich erneut in die Fotos. «Ist es nicht ein seltsamer Zufall, dass drei AA -Mitglieder in so kurzer Zeit auf dem kleinen Island umkommen?»
«Also so seltsam ist das nicht, das kleine Island ist voll von Saufbolden. Und wenn du den Drogentypen meinst, der auf der Miklatún unter einem Busch erfroren ist, der Mann hat geerntet, was er gesät hat. Ich glaube, dass das etwas weit hergeholt ist, meinst du nicht?» Er verzieht das Gesicht zu einer schiefen Grimasse, die mir die Absurdität meiner Worte vor Augen führen soll, und ich kann nicht anders, als gezwungen zu lächeln und zu nicken, während die beiden kichern.
«Wir denken, dass es Mord oder Selbstmord war», erläutert Iðunn. Ich frage mich, warum sie mich zu diesem Treffen mitgenommen hat, wenn sie beide die Richtlinien schon festgelegt haben und mich offensichtlich nicht brauchen. «Die endgültigen Ergebnisse der Autopsie bestätigen hoffentlich, dass er sich umgebracht hat», fährt sie fort.
«Ja, seine Vergangenheit ist auf alle Fälle gezeichnet von Depressionen und Selbstmordneigungen», fügt Njörður hinzu. «Er war im Alter von dreizehn bis sechzehn in einem Jugendheim.»
«Weshalb?», frage
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