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Zwoelf Schritte

Zwoelf Schritte

Titel: Zwoelf Schritte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilja Sigurdardóttir
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bis ich zu einem Fahrweg gelange, der sich in Kurven den Hügel hochschlängelt. Das ist eigentlich der einzige Ort, der in Frage kommt. Ich gehe die Straße hoch, ohne auf irgendein lebendes Wesen zu treffen. Auf dem Weg hinunter begegne ich einem Mann, dem ich einen guten Tag wünsche, der den Gruß aber nur zögernd erwidert und mich keines Blickes würdigt. Plötzlich sitzt ein hellbraunes Kaninchen furchtlos vor mir auf der Straße, und ich verspüre ein starkes Verlangen, es zu streicheln, aber es hoppelt im selben Moment davon, in dem meine Hand seinen samtweichen Rücken berührt. Iðunns schwesterliche Seelenverwandte, denke ich bei mir, eher belustigt als aus Bitterkeit. Ich wünschte, ich hätte ein Stück Brot oder sonst einen Leckerbissen in der Tasche, um das kleine Tier anzulocken. Nach zwei Runden den Weg hoch und runter bin ich total verschwitzt und denke, dass Atli an besagtem Sonntagnachmittag am Öskjuhlíð-Hügel wohl nicht gerade viel abgekriegt hat. Als ich schon beinahe unten angelangt bin und mich auf den Heimweg machen will, fährt ein steingrauer Wagen den Weg hoch. In dem Mercedes sitzt ein dunkelhaariger Fahrer um die vierzig, der die Scheibe runtermacht und anhält. Die Armaturen im Inneren sind aus Holz und Leder, im Flaschenhalter zwischen den Sitzen stehen zwei ungeöffnete Colaflaschen, und auf der hinteren Bank befindet sich ein Kindersitz.
    «Tag.»
    «Guten Tag», erwidere ich.
    «Prächtiges Wetter.»
    «Ja, aber es ist kalt.» Ob Schwule, die am Öskjuhlíð herumkurven, ihre Gespräche wie alle Isländer immer auf die gleiche Art beginnen: mit dem Wetter? «Kommst du oft her?»
    «Immer wieder mal», antwortet er und blinzelt mir zu.
    «Hast du vielleicht diesen Mann die letzten Sonntage hier gesehen?» Ich halte ihm ein Bild von Atli hin, das ich im Internet gefunden habe. Die Qualität des Ausdrucks ist nicht umwerfend, doch er ist auf dem Bild zu erkennen. Sein Lächeln verschwindet, und ich glaube, er hat sich das Bild gar nicht angeschaut. Er drückt voll aufs Gaspedal und donnert mit quietschenden Reifen den Weg hoch. Ich versuche ihm etwas nachzurufen, doch er ist schon außer Sichtweite. Nach und nach wird mir klar, dass das wohl keine gute Idee war. Auch wenn der Mann Atli möglicherweise ein Alibi für die besagte Zeit letzten Sonntag hätte verschaffen können, weiß ich immer noch nicht, ob er ein regelmäßiger Besucher ist und ob er in dem Fall immer denselben Wagen benutzt. Er könnte genauso gut zu Fuß oder mit dem Fahrrad aufkreuzen und wäre sicher nicht in der Stimmung, mir zu erzählen, was er hier macht.
     
    Als ich nach dem Spaziergang nach Hause komme, fühle ich mich schlapp und stelle mich unter die dampfend heiße Dusche. Ich trödle eine Weile herum, unentschlossen, was ich mit dem Rest des Tages anfangen soll. Auf meiner Mailbox ist keine Nachricht, und Iðunn antwortet nicht, als ich sie anzurufen versuche. Ich beschließe, das nächste Meeting zu besuchen, und wühle in meinem Kleiderschrank nach etwas Brauchbarem zum Anziehen. Ich finde ein weißes T-Shirt, das Iðunn mir vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt hat, ziehe meine bessere Sonntagshose an und fühle mich sauber und frisch, zumindest äußerlich. Bevor ich losgehe, ergänze ich meine Verdrussliste: Iðunn, weil sie mich nicht liebt.
     
    Ich gehe zu einem kleinen Meeting im Versammlungszentrum in der Innenstadt, und als ich eintrete, sehe ich ein paar bekannte Gesichter. Ich schenke mir Kaffee ein und habe mich gerade hingesetzt, als ein korpulenter Mann hereinstürmt und mich anfährt:
    «Gib den Stuhl frei, mein Freund, das ist gewöhnlich mein Platz.» Ich stehe verwundert auf und murmle etwas von freier Sitzwahl, doch er fügt hinzu, dass ich doch wohl einem älteren Herrn den Vortritt lassen werde, und blinzelt mir gutmütig wie ein Weihnachtsmann zu. Die Irritation brodelt in mir weiter, und ich gehe um den ganzen Tisch herum und setze mich ihm gegenüber hin, sodass er mich die ganze Zeit über anschauen muss. Es scheint ihm ziemlich egal zu sein, er setzt sich zurecht und grummelt zufrieden vor sich hin. Ich finde es selbstverständlich, den Sitzplatz älteren Menschen zu überlassen, doch dieser Mann ist weit davon entfernt, alt zu sein, er ist höchstens fünfzig. Vielleicht benötigt er wegen seines Übergewichtes den Platz am nächsten an der Tür. Der Leiter gibt das Wort nach links weiter. Es gibt keine zeitliche Beschränkung, wer wie lange reden darf, was der

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