Zwoelf Schritte
Hals.
«Darf ich dich zur Lasagne einladen?», sage ich zu Iðunn, als sie mit der Kopie in der Hand vor der Tür steht. Egill umarmt sie herzlich.
«Nein danke, Magni, ich muss weiter.» Sie wendet ihre Aufmerksamkeit wieder Egill zu. «Schön, dich so frisch und munter zu sehen!» Egill strahlt wie die Sonne. Iðunn hat durch ihre Arbeit schon unzählige Male mit Egill zu tun gehabt: ihn in zweifelhaftem Zustand nach Hause gebracht, ihn in die Zelle verfrachtet und am nächsten Tag wieder auf freien Fuß gesetzt oder ihn manchmal ins Krankenhaus gefahren, wenn er verletzt war oder es ihm nach dem Konsum irgendwelcher Substanzen schlechtging. Egill sagte immer, dass Iðunns Nörgelei ihn nerve, doch in Wahrheit war sie der einzige Mensch, dem er noch Respekt entgegenbrachte, als er abhängig war.
«Ich freue mich auch, dich zu sehen!», ruft Egill ihr nach. Er ist ausgelassen wie ein Welpe, und ich erwarte beinahe, dass er gleich im Kreis rennen wird, um seinen eigenen Schwanz zu jagen. Er beruhigt sich, als ich das Essen auf die Teller gebe. Wir setzen uns mit je einem Halbliterglas Cola, der Lasagne und dem Salat vor den Fernseher. Mein Herz klopft schnell vor lauter Aufregung, und ich würde mich am liebsten gleich in das Heft vertiefen. Aber ich rede mir gut zu und beruhige mich kurz darauf wieder. Ich genieße das Zusammensein mit meinem kleinen Bruder und hätte viel darum gegeben, wenn wir in unserer Kindheit so hätten dasitzen können: geborgen und satt.
Nachdem Egill gegangen ist, schalte ich den Fernseher aus, räume die Küche auf und mache es mir im Schlafanzug mit dem Heft von Bjarni Jóhannes auf dem Sofa gemütlich. Auf der ersten Seite hat er in großen Buchstaben den fünften Schritt notiert:
Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt unsere Fehler zu
. Auf der zweiten Seite beginnt die Aufzählung seiner Übertretungen oder Vergehen anderen Menschen gegenüber. Die Liste scheint zu einem Zeitpunkt zu beginnen, als er noch sehr jung war, denn Kekse klauen und freche Bemerkungen der Mutter gegenüber stehen neben einer Unzahl anderer Bagatellen, die ihn dennoch zu ärgern schienen, da er sie notiert hat. Ich lese weiter, und nach dem liederlichen Betragen seiner Mutter und seinen Freunden gegenüber folgen Namen von Leuten, bei denen es sich vermutlich um Angestellte des Jugendheimes handelt. Es ist nichts über den Tod eines Kindes vermerkt, und ich beginne zu zweifeln, ob Egill recht hatte. Als ich fertig bin, kann ich gut verstehen, dass verschiedene Punkte das Gewissen des jungen Mannes belastet haben, die typische Leidensgeschichte eines Alkoholikers. Es ist unwahrscheinlich, dass jemand, der den Tod eines anderen Menschen verursacht hat, auch wenn es ein Unfall war, sich so verhalten würde, als sei nichts geschehen. Vielleicht plagte ihn das schlechte Gewissen zu sehr und es war zu schmerzhaft, die Tat vor sich selbst, vor Gott und dem Vertrauensmann einzugestehen. Oder er verfügte über die Fähigkeit, es aus seiner Erinnerung zu tilgen, unter Umständen hat er gedacht, dass er nichts verbrochen hat. Meine Gedanken wandern zurück zur Theorie von Iðunn und Njörður, dass Bjarni Jóhannes vielleicht der Mörder von Jón Águst war, und ich versuche, mich von dieser Gedankenspirale zu lösen, indem ich mir das Gegenteil vor Augen führe – Egill muss sich getäuscht haben, jemand anders hat das Kind getötet.
Ich putze mir die Zähne und gehe in die Küche, um die Spülmaschine auszuräumen. Seit dem Entzug ist es mir besonders wichtig, dass alles um mich herum sauber und ordentlich ist, als ob die äußere Wirklichkeit ein Symbol der Kontrolle ist, die ich über mein Leben erlangt habe. Bevor ich mich schlafen lege, kann ich der Versuchung nicht widerstehen, nochmals ins Internet zu gehen. Ich gebe die Namen der beiden Toten ein und suche nach etwas, das mit der Vergangenheit von Bjarni Jóhannes zu tun haben könnte. Nach einer Stunde erfolglosem Wühlen übermannt mich die Müdigkeit, und ich lege mich ins Bett. Ich schicke Iðunn eine SMS , dass ich im Heft auf nichts Auffälliges gestoßen bin, und sie antwortet mit einem trockenen
ok
. Sie hätte mir wenigstens eine gute Nacht wünschen oder ein paar Worte hinzufügen können. Eigentlich sollte ich mit der Arbeit am fünften Schritt beginnen, doch ich finde keine innere Ruhe. Geirs Worte, dass ich versuchen sollte zu beten, fallen mir ein. Also falte ich die Hände und versuche zu einer
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