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Zwoelf Schritte

Zwoelf Schritte

Titel: Zwoelf Schritte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilja Sigurdardóttir
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höheren Macht zu sprechen, komme mir dabei aber lächerlich und seltsam vor, ich schäme mich fast. Daraufhin drehe ich mich zur Seite und schlafe ein.
     
    Ich erwache mit einem Kopf voller Mutmaßungen und Fragen, von denen ich weiß, dass ich die passenden Antworten finden muss. Der Verstand scheint nach Lösungen zu dürsten, also stehe ich auf. Kurz darauf gehe ich in Richtung Landes- und Universitätsbibliothek. Dort war ich schon ab und zu, um Fakten im Zusammenhang mit meinen Übersetzungen zu überprüfen, doch normalerweise nehme ich nur Romane an, die keine Nachforschungen erfordern. Jetzt begebe ich mich in den dritten Stock, in die Zeitschriftenabteilung. Ein Bibliothekar hilft mir, die entsprechenden Zeitungen des Zeitraums zu finden, von dem Egill gesprochen hat. Wenn er damals gerade auf der Realschule angefangen hat und jetzt vierundzwanzig ist, muss das 1996 gewesen sein. Ich beginne mit dem
Morgunblaðið
Mitte des Jahres und schaue mir Juli und August an, dann September und blättere mich weiter durch. Mitte Oktober finde ich einen Artikel über das Urteil des Bezirksgerichtes und die Unterbringung eines nicht strafmündigen Jugendlichen, Bjarni Jóhannes Jónsson, in das staatliche Jugenderziehungsheim bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr. Am Ende des Artikels steht, dass Bjarni den Tod eines vierjährigen Jungen verschuldet hat, der bei seiner Familie Anfang des Jahres 1995 zu Gast war. Ich brauche eine Pause, eine Spannung breitet sich in meinem Körper aus, die es unmöglich macht, länger still zu sitzen. Ich wähle Iðunns Nummer und renne auf den Flur, da der Bibliothekar mir mit strengem Blick und bestimmten Gesten zu verstehen gibt, dass er in seiner mit Teppich ausgelegten und geräuscharmen Bibliothek keinen Lärm duldet.
    «Iðunn, ich habe alte Zeitungen studiert und herausgefunden, dass Bjarni Jóhannes als Jugendlicher ein vier Jahre altes Kind getötet hat», sprudelt es in dem Augenblick aus mir heraus, als sie antwortet.
    «Ich habe es eben auch erfahren, ich lese gerade die Gerichtsprotokolle», bestätigt sie.
    «Was ist genau passiert?», frage ich und möchte ihr alles aus der Nase ziehen, doch sie weiß auch nicht viel mehr als ich.
    «Ich muss nach Selfoss fahren und mir die Polizeiakten ansehen», erklärt sie. Ich warte darauf, dass sie mich auffordert mitzukommen, doch sie sagt nichts, und so bitte ich sie, mich auf dem Laufenden zu halten.
    «Ich bin ziemlich angespannt und fühle mich fast ein bisschen gestresst», sage ich lachend.
    «Ach, warum kommst du nicht einfach mit?», fragt sie, und ich habe schon geantwortet, bevor sie zu Ende gesprochen hat.
     
    Der Straßenzustand verschlechtert sich, je höher wir auf dem Weg auf die Hellisheiði gelangen. Als der Wagen wegen der Schneeverwehungen zu hüpfen beginnt und die gelben Straßenpfosten im Schneesturm kaum mehr zu erkennen sind, erkundige ich mich bei Iðunn, ob sie vor der Abfahrt den Wetterbericht abgefragt hat.
    «Nein, ich war in Eile», erwidert sie lächelnd und wirkt unbesorgt. Ich dagegen überlege, ob nicht Schneeketten sinnvoll wären und ich vielleicht einen warmen Overall im Wagen finde. «Mach dir keine Sorgen, Magni, sonst stecken wir eben fest!» Ich beruhige mich und versuche mir nicht vorzustellen, wie wir im Schneegestöber mitten auf der Hochebene eine Panne haben und Iðunn kalt und verletzt neben mir liegt. Wir schleichen in langsamem Tempo weiter die Straße hinauf, ab und zu kann man vor sich ein paar Meter erkennen, doch dann scheint der Wagen wieder von Baumwolle umwickelt zu sein, die sowohl die Sicht wie auch das Motorengeräusch dämpft. Plötzlich steht quer vor uns ein Polizeiwagen mit blinkendem Blaulicht, und ein Polizist im Schneeoverall ruft uns durch den Spalt an der Scheibe zu, dass die Hochebene im Moment nicht befahrbar sei und wir in einer Reihe hinter dem Schneepflug herfahren müssten. Er weist uns an, die Straße zu verlassen, und als wir den Abhang hinunterfahren, entdecke ich inmitten des Schneegestöbers die kleine Gaststätte. Ich dachte, wir seien schon viel weiter. Nachdem wir uns durch den blauweißen Sturm gekämpft haben, können sich die Augen in dem gelben Kunstlicht entspannen. Wir bestellen uns Kakao und begutachten die Hausmannskost hinter der Theke. In dieser traditionellen Gaststätte werden dieselben Speisen angeboten, seit ich zurückdenken kann. Hier gibt es keine Pizzen oder Hamburger. Iðunn bestellt ein Eibrötchen, und ich nehme ein Flachbrot mit

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