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Zwoelf Schritte

Zwoelf Schritte

Titel: Zwoelf Schritte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilja Sigurdardóttir
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Treppe her reißt mich aus meinen Gedanken, und bevor der Mann den Saal betritt, weiß ich, wer es ist. Spüre, wie mir die Hitze ins Gesicht schießt, ich werde den Sitzplatz nicht freigeben, falls er ihn wieder beansprucht, sondern wie angewachsen sitzen bleiben. Es ist offensichtlich, dass er schon häufiger hier war. Er setzt sich mir gegenüber, gleich neben das Rednerpult. Wie letztes Mal gibt der Leiter, nachdem er das Meeting eröffnet hat, das Wort nach links an den Dicken weiter, der erneut eine knappe halbe Stunde redet. Geschickt von ihm, nur zu Meetings zu gehen, bei denen es keine Zeitbeschränkung gibt. Er spricht über sein Leben und wie unglücklich er ist, dass keiner ihn liebe, ihn nicht lieben könne, so wie er sei. Wie er die Alkoholabhängigkeit auf das Essen übertragen habe und aufgrund seiner fehlenden Selbstkontrolle nun der Fresssucht verfallen sei. Und wieder kein Wort darüber, was er unternimmt, um sich vom Alkohol fernzuhalten. Er gibt keinen Ratschlag, was andere tun könnten, und erwähnt nicht, wie er die Schritte für sich nutzt, um eine Besserung seines Zustandes herbeizuführen. Ich spüre, wie mich dieselbe Irritation wie letztes Mal erfasst und immer stärker wird, je länger er spricht. Ich höre ihm nicht mehr zu, betrachte die Gesichter im Saal und überlege mir, ob sich unter ihnen jemand befindet, der anderen etwas Böses antun will. Meinen fettleibigen Freund kann ich ausschließen, da er zu sehr mit sich selber beschäftigt zu sein scheint und es niemals schaffen würde, ein schweres Kreuz mit einem Mann hochzustemmen. Einige Männer sind kräftig. Während ich sie mustere, nehmen meine Gedanken plötzlich eine andere Richtung, werden immer unangenehmer. Wer von ihnen könnte zum Opfer dieses boshaften Menschen werden? Nur noch ein paar Leute haben Gelegenheit, kurz etwas über sich und ihre Probleme zu erzählen, dann ist das Meeting zu Ende, lange bevor ich an die Reihe gekommen wäre. Ich bin froh darüber, denn nachdem mir klargeworden ist, dass alle bei diesem Treffen potenzielle Opfer sind, halte ich es für sicherer, mich möglichst unauffällig zu verhalten.

[zur Inhaltsübersicht]
Sechstes Kapitel Heilung
    Ich habe eine Stunde bis zum nächsten Meeting und versuche, schnell hinauszugelangen, aber das gestaltet sich schwieriger, als ich dachte, denn alle Männer müssen mich umarmen und «Danke für das Meeting» sagen. Mir sind diese Umarmungen unangenehm, doch es haben schon etliche auf den Meetings gesagt, dass sie das anfangs schrecklich fanden, sich aber mit der Zeit daran gewöhnten und später sogar nicht zuletzt deshalb zu den Meetings kamen, um umarmt zu werden. Ich kann verstehen, wenn man das als Freundschaftsbeweis und Unterstützung auffasst, aber mir war es immer zuwider, unbekannte Leute berühren zu müssen, und es wird jetzt nicht besser dadurch, dass ich ständig daran denke, einer auf dem Meeting könnte eventuell ein Mörder sein.
    «Du gerätst besser nicht unter mich, falls ich stürze», sagt der fette Platzdieb oberhalb von mir auf der engen Treppe. Er hält sich auf beiden Seiten am Handlauf fest, setzt mühsam einen Fuß auf die nächste Stufe und zieht den anderen nach.
    «Ich müsste eigentlich weich fallen», antworte ich und gehe in aller Ruhe die Treppe hinunter. Der Kerl lacht tief wie der Weihnachtsmann, und ich lächele ihm zu, aber in Wirklichkeit brennt mein Hals, weil ich Mitleid mit ihm empfinde. Der Körper ist von der Fresssucht gezeichnet und eine sichtbare permanente Erniedrigung, während gewöhnliche Alkoholiker nicht auffallen, solange sie nüchtern sind. Plötzlich bin ich ihm nicht mehr böse und reiche ihm die Hand, als wir unten angekommen sind, um ihm für das Meeting zu danken.
    «Gleichfalls, mein Freund, gleichfalls.» Meine Hand verschwindet kurz in seinen beiden Händen.
    «Danke gleichfalls für das Meeting, Kameraden!», erklingt eine Stimme hinter mir, und ich brauche einen Moment, um die braunen Welpenaugen und das narbige Gesicht zuzuordnen.
    «Hallo, Elís.» Ich reiche ihm die Hand. «Warst du auch auf dem Meeting?»
    «Ja, ich bin spät gekommen und saß neben dir», sagt er. Mir ist unverständlich, wie ich ihn bei so wenigen Leuten übersehen konnte. Er schaut unseren dicken Bekannten fest an, während er ihm die Hand schüttelt.
    «Sollen wir uns nicht ein wenig unterhalten?»
    «Ich weiß nicht, ob das etwas bringt», antwortet er, und der massige Körper gibt ein resigniertes Stöhnen von sich.

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