Zwoelf Schritte
mich auf einen Küchenhocker, und ich habe das Gefühl, als stünde ich neben mir und sähe uns von außen, mich zusammengekauert auf dem Hocker und Iðunn, wie sie sich bedrückt und unsicher in der Küche zu schaffen macht. Es ist immer schwer, sich im Angesicht des Todes richtig zu verhalten, aber in diesem Fall gibt es nun wirklich kein Rezept. In Gedanken spiele ich den Hergang wieder und wieder durch, doch der Schutzschild der Seele begegnet dem Schmerz stets mit neuer, aufkeimender Hoffnung, zäh wie Löwenzahn im Frühling. Vielleicht lebt Egill noch, vielleicht wurde er nur in die Büsche geschleudert und liegt dort bewusstlos. Aber die Realität beantwortet die Hoffnung mit all ihrer Grausamkeit. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie mein Bruder zerfetzt wurde, und er kann unmöglich noch am Leben sein. Trotzdem hoffe ich, dass es nicht wahr ist. Iðunns Telefon klingelt, und sie sagt ein paarmal «Ja» und steckt es wieder in die Tasche.
«Du solltest nicht den Fernseher anmachen», sagt sie.
«Nein.» Ich habe keine Lust fernzusehen. Ich will nicht wissen, was für Theorien über die Explosion im Umlauf sind, und schon gar nicht Interviews mit Zeugen sehen und hören, dass die Körperteile meines Bruders über den ganzen Platz verstreut wurden.
«Außerdem solltest du auf dem Handy nur Anrufe von Nummern entgegennehmen, die du kennst», sagt sie und zieht das Telefonkabel aus der Buchse. «Kann dir nicht jemand heute Abend Gesellschaft leisten?» Ich will ihr gerade antworten, dass ich Egill anrufe, als mich die schmerzhafte Wirklichkeit wieder mit voller Kraft erfasst und die Betäubung einen Moment durchbricht.
«Nein», sage ich, «Egill ist tot und Fríða bewusstlos.»
«Ich schau nachher noch einmal bei dir vorbei», sagt Iðunn, «und bringe was zum Abendessen mit.»
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Zehntes Kapitel Inventur
Ich erwache langsam, aber sicher aus dem Tablettenschlaf. Als Erstes nehme ich eine angenehme Ruhe wahr, während die Gedanken langsam aus den Tiefen des Bewusstseins an die Oberfläche steigen, aber als die Erinnerung zurückkommt, überfällt mich der Schmerz mit voller Wucht. Ich habe das Gleiche schon einmal erlebt und weiß, dass man sich nach einigen Monaten irgendwie an den Schmerz gewöhnt, sodass er mit der Zeit ein selbstverständlicher Bestandteil des Alltags wird. Der Tod scheint eng mit der Jugend verbunden zu sein, denn ich sehe Egill vor mir als kleinen Jungen, und ein Großteil meines Schmerzes rührt nicht von seinem Tod, sondern von der Trauer darüber, dass ihm kein besseres Leben vergönnt war. Sobald ich wach bin, würde ich am liebsten mehr von den Tabletten nehmen, die mir Iðunn gestern mitgebracht hat, und wieder im sorgenfreien und friedlichen Medikamentendämmer versinken. Obwohl ich weiß, dass ich solche Tabletten nicht nehmen darf, wenn ich trocken bleiben will, habe ich Iðunns Druck nachgegeben, die sagte, dass es wichtiger sei, mich auszuruhen und zu schlafen.
Ich dusche kochend heiß und ausgiebig, mache mir starken Kaffee, um die Betäubung abzuschütteln, und setze mich mit der Zeitung an den Küchentisch. Ich nippe am Kaffee, hole tief Luft und überfliege die Schlagzeilen. Die Zeitung ist beherrscht von den Ereignissen auf dem Austurvöll. Ich lese die Artikel quer, aber da steht nichts, was ich nicht schon weiß. Die Sache wird wie ein einzigartiges Ereignis dargestellt, und nirgendwo findet sich ein Hinweis, dass zu den Morden der vergangenen Wochen ein Zusammenhang besteht. Die Polizei hat ihre Leute gut im Griff. Ich trinke den Kaffee aus, schenke mir nach und rufe Iðunn an.
«Ich bin gerade in einer Sitzung, Magni, darf ich dich zurückrufen, wenn wir fertig sind?» Sie flüstert, und im Hintergrund höre ich die tiefe Stimme von Njörður. Ich lege auf und überlege, was ich unternehmen könnte. Ich bin nicht imstande zu arbeiten. Die Beerdigung kann ich noch nicht vorbereiten, weil die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind, aber ich kann auch nicht herumsitzen und warten, dass etwas geschieht. Ich habe das Gefühl, als würde der Schmerz mein Herz zerreißen, wenn ich mich nicht aufraffe. Als ob meine Verzweiflung einen Notruf an die Welt ausgesandt hätte, der vom Richtigen empfangen wurde, klingelt in dem Moment das Telefon, es ist Geir.
«Ich weiß nicht, was ich sagen soll, mein Lieber, außer dass ich an dich denke.» Seine Stimme ist tief und warm und bringt etwas in meiner Brust zum Schmelzen, sodass ich plötzlich vor
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