Zwoelf Schritte
lauter Schluchzen kaum sprechen kann. Trotzdem stöhne ich einige Worte des Dankes. «Ich habe leider heute überhaupt keine Zeit, aber morgen müssen wir uns treffen.»
«Ja, danke, das wäre gut», sage ich. «Ich brauche deinen Rat, vielleicht sollte ich versuchen, noch einmal einen Platz im Entzug zu bekommen, und dort bleiben, bis der ganze Wahnsinn vorbei ist.»
«Das ist keine schlechte Idee», antwortet er, «wir besprechen das dann morgen.» Schon wieder steigt ein Schluchzen aus meiner Brust in den Hals, und ich verabschiede mich schnell.
«Versuche, dich gut zu behandeln, mein Freund», sagt Geir, bevor er auflegt.
Ich ziehe irgendwelche Sachen an, die auf den Möbeln und dem Boden verstreut herumliegen, kämme meine Haare und besprühe den Dreitagebart mit Rasierwasser. Ich bin zu zittrig, um mich zu rasieren. Ich betrachte mich im Spiegel und sehe einen alten Penner. Egill wäre so nicht mit mir zufrieden gewesen. Er hielt immer viel aufs Aussehen, obwohl er zu Junkiezeiten versuchte, so furchterregend wie möglich zu wirken. Im Gesicht hatte er überall Piercings, war am ganzen Körper tätowiert und nahm Anabolika zur Muskelbildung. Auch dass er stank und dreckig war, gehörte wohl zu seinem abstoßenden Outfit, denn nach dem Entzug war er sauber und gepflegt; ich bildete mir geradezu ein, eine Duftwolke zu riechen. Er kaufte sich jeden Monat neue Klamotten und betrachtete sich ständig im Spiegel.
«Wir müssen uns einfach vorerst damit abfinden, lieber Bruder», sage ich zu meinem Spiegelbild, als ob ich mit Egill spräche, und schnappe mir auf dem Weg hinaus das Handy und die Schlüssel.
Im Vatnsmýri-Viertel gehe ich bei Egills Vermieter vorbei, einem alten Mann, der nach dem Tod seiner Frau in den Keller seines Hauses gezogen ist und seitdem die Zimmer oben vermietet. Er trägt einen Morgenmantel über dem Hemd, als er die Tür aufmacht, und aus dem Wohnungsinneren hört man die Wetternachrichten im staatlichen Rundfunk.
«Guten Tag, ich bin Egills Bruder», sage ich. Er braucht eine Weile, bis er den Zusammenhang herstellt, aber dann nimmt er meine Hand in beide Hände und drückt sie fest.
«Von ganzem Herzen mein tiefstes Beileid, lieber Freund.» Meine Kehle zieht sich zusammen, aber ich hole tief Luft und bedanke mich bei ihm. Ich bin überrascht, dass mir das Mitgefühl guttut. Nach Baldurs Tod war das nicht so, da wünschte ich mir oft, dass niemand wüsste, was ich durchmachte, und sich alle mir gegenüber so benähmen, als wäre alles in Ordnung.
«Würdest du mich wohl in sein Zimmer lassen?», frage ich.
«Ja, mein Freund, das ist doch selbstverständlich», antwortet er und geht in die Wohnung, um den Schlüssel zu holen. Er kommt ohne Morgenmantel zurück, unter dem er offensichtlich vollständig bekleidet war, hat sich Schuhe angezogen und eine Mütze auf dem Kopf, als ob er einen langen Spaziergang machen wollte. Auf dem Weg nach oben verstehe ich, warum er sich so dick angezogen hat. Er hat offensichtlich Knieprobleme und braucht seine Zeit, um jede Stufe zu bezwingen.
«Ich kann auch selbst aufsperren, wenn du mir den Schlüssel gibst.» Ich habe Mitleid mit dem alten Mann, der sich so abquälen muss.
«Das ist schon in Ordnung, mein Freund, ich muss sowieso nach den Jungs oben schauen. Ich versuche, täglich nachzusehen, ob bei ihnen alles in Ordnung ist. Sie vergessen manchmal abzuspülen, und das geht nicht, wenn man gemeinsam eine Küche benutzt.» Er lächelt triumphierend, als er den Treppenabsatz erreicht hat und die Haustür öffnet. «Die Haustür ist tagsüber nicht verschlossen, aber die Jungs sperren ihre Zimmer ab.» Wohnzimmer und Küche sind mit alten Möbeln eingerichtet, altmodische Gardinen hängen vor den Fenstern, und grellbunte Teppiche bedecken den Fußboden. Es erinnert ein bisschen an die Wohnung unserer Großmutter in Akureyri, die Egill und ich oft im Sommer besucht haben. Es wundert mich nicht, dass sich Egill hier wohl gefühlt hat.
«Bitte schön», sagt der Mann und öffnet das vorderste Zimmer im Flur mit den Schlafzimmern, «hier herrscht ein wenig Durcheinander, nachdem die Polizei gestern alles durchsucht hat.» Das Zimmer ist ziemlich groß, gegenüber von der Tür steht ein Doppelbett, vor dem Fenster ein Schreibtisch und in der Ecke ein Kleiderschrank.
«Er war ein guter Junge, der Egill», sagt der Mann und schaut sich traurig um. «Er hat mir gleich am Anfang gesagt, als er sich bei mir einmietete, dass er Trinker ist
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