Zwoelf Schritte
würde sie nicht von meiner Unschuld, meiner Selbstkontrolle und meiner ausgeglichenen Persönlichkeit überzeugen. Auf dem Weg nach draußen beugt sich Njörður zu mir vor und sagt:
«Es sieht nicht gut für dich aus.» Ich bin ratlos, ich kann nichts herbeizaubern, was sie im Moment von meiner Unschuld überzeugen würde. Megan schmatzt einen Kuss auf meine Wange und flüstert:
«Don’t worry.» Mein Magen entspannt sich bei diesen Worten. Ich traue ihr zu, Njörður und Co. zur Vernunft zu bringen.
Als sie weg sind, strecke ich mich auf dem Sofa aus, lege eine Entspannungs- CD in den Player und versuche, Herzschlag und Atmung unter Kontrolle zu bringen, indem ich die Anweisungen der tiefen Stimme befolge. Zuerst ist es schwierig, aber nach und nach kann ich mich auf sie konzentrieren, dann muss ich eingeschlafen sein, denn ich schrecke vom Klingeln des Telefons hoch.
«Magni, wir müssen uns treffen», sagt Egill.
«Ja, sieh an, mein Kumpel aus dem Club der Verdächtigen!», scherze ich, aber Egill geht nicht darauf ein.
«Kannst du mich gleich zum Kaffee treffen?», fragt er hastig.
«Jetzt gleich?»
«Ja, sofort.»
«Okay, ich komme.» Ich bin etwas verdutzt. Warum hat er es so eilig? Er nennt ein Café in der Innenstadt, und ich verspreche, in zehn Minuten da zu sein. Ich renne die Grettisgata entlang und den Skólavörðustígur hinunter. Nehme die sonnige Seite der Straße, weil die Sonne trotz der kalten Luft des leichten Nordwindes erstaunlich stark ist.
Ich erreiche vor Egill das Café am Parlamentsplatz Austurvöllur, wo nur wenig Gäste sind. Mich fröstelt, deshalb wähle ich einen Platz in der Sonne am Fenster. Hole mir eine Zeitung aus dem Ständer und hänge den Mantel über die Lehne. Gerade als ich mir den Schal vom Hals wickele, stürmt Egill herein. Er ist aufgeregt und rot im Gesicht, und das Erste, was mir einfällt, ist, dass er Aufputschmittel genommen hat.
«Was ist los, Egill?»
«Setz dich, Mann, setz dich.» Er drückt mich auf den Stuhl und setzt sich mir gegenüber. Er schaut aus dem Fenster, als ob er nach jemandem Ausschau hielte.
«Verfolgt dich jemand?» Ich folge seinem Blick. Nur wenige Passanten sind auf der Straße unterwegs.
«Nein. Ich muss einfach dringend mit dir reden und einige Sachen erledigen.»
«Schon gut, mein Freund, was darf ich dir anbieten?», frage ich und winke dem Kellner.
«Nichts», sagt Egill und starrt auf die Tischplatte.
«Nichts?» Ich bin verwundert.
«Oder einfach ein Wasser», sagt er, wie um mir einen Gefallen zu tun.
«Ich glaube, du bist krank, lieber Egill, du bist hier im Café mit deinem Bruder, der alles bezahlt, und willst keinen Kuchen», scherze ich und lächele ihm zu, aber er scheint mir gar nicht richtig zuzuhören. «Bist du nüchtern, Egill?», erkundige ich mich behutsam. Ich will nicht, dass er glaubt, dass ich ihn verurteile, selbst erst kürzlich wiederauferstanden und erst seit wenigen Tagen nüchtern.
«Ja, Mann, ich bin nüchtern. Aber es wundert mich nicht, dass du mich seltsam findest, ich bin einfach ganz schön, na ja, durcheinander.»
«Sag mir, was dich bedrückt, mein Lieber», rede ich ihm zu und lasse den Kellner wissen, dass wir einen Cappuccino und ein Glas Wasser wollen.
«Ich arbeite gerade an dem neunten Schritt, du weißt schon:
Wir machten bei diesen Menschen alles wieder gut – wo immer es möglich war –, es sei denn, wir hätten dadurch sie oder andere verletzt
. Und jetzt muss ich dir gegenüber Wiedergutmachung leisten.» Meinetwegen braucht er das nicht zu tun, denn ich kann mich an nichts Negatives in unserer Vergangenheit erinnern. Allerdings soll man im neunten Schritt Verantwortung für seine Taten übernehmen und die alten Gefühle und Schuldgefühle besiegen, deshalb sage ich nur:
«In Ordnung.» Er zieht einen zerknüllten Zettel aus der Hosentasche und versucht ihn mit bebenden Fingern zu glätten. «Sei nicht so gestresst, Egill, ich liebe dich, egal, was passiert.» Ich lege meine Hand auf seine. Sie ist eiskalt, aber trotzdem schwitzig.
«Danke.» Er schaut auf die Tischplatte hinab. Ich kenne den Gesichtsausdruck. Es ist der gleiche, den er als kleines Kind bekam, wenn er kurz davor war, in Tränen auszubrechen.
«Als Erstes wollte ich mich bei dir für einen Vorfall entschuldigen, als ich ungefähr dreizehn war. Du und Iðunn, ihr wart erst seit kurzem zusammen, und ich übernachtete mal wieder bei euch. Am Morgen, als du schon zur Uni gefahren warst,
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