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Zwoelf Schritte

Zwoelf Schritte

Titel: Zwoelf Schritte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilja Sigurdardóttir
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Wand, wo ich hoffentlich wenig auffalle und nicht zu reden brauche. Von mir wäre heute wahrscheinlich nicht viel Geistreiches zu erwarten. Es ist ein Schritte-Meeting, in dem der zehnte Schritt zur Diskussion steht:
Wir setzten die Inventur bei uns fort, und wenn wir unrecht hatten, gaben wir es sofort zu.
Ich erfasse nicht ganz den Sinn dieses Schrittes, aber versuche, mich darauf zu konzentrieren, was die Leute erzählen. Eine alte Frau berichtet, als sie bei den AA begonnen habe, sei ihr gesagt worden, sie solle gleich mit dem zehnten Schritt anfangen und üben, nicht in die Defensive zu gehen und ihre Fehler zu rechtfertigen, sondern zuzugeben, dass ihr ein Missgeschick unterlaufen sei, und sich falls nötig zu entschuldigen. So könne sie eine gute psychische Verfassung wahren, was jegliches Verlangen nach Alkohol lindere. Ein junger Mann, der mich an Egill erinnert, erzählt, dass er den zehnten Schritt praktiziere, indem er sich von seinem Handy dreimal am Tag anpiepsen lässt. Wenn er das Piepsen hört, hält er inne und denkt über seine Reaktionen und sein Verhalten seit dem letzten Piepsen nach und beurteilt, ob er etwas übersehen, jemanden verletzt hat oder ob er jemanden um Verzeihung bitten muss. Ich höre zu und finde die Leute so reif und fortgeschritten, dass ich mir im Vergleich fürchterlich primitiv vorkomme. Ich weiß oft nicht einmal, wie ich mich fühle, geschweige denn, dass ich darüber so klarsichtig reden könnte. Als ich an der Reihe bin, bin ich einen Moment sprachlos und weiß nicht, was ich sagen soll. Normalerweise lässt man es bei den AA dabei bewenden, sich vorzustellen, wenn man nicht reden möchte, aber ich schaffe es nicht einmal, meinen Namen zu sagen. Ich schaue auf meine Hände und versuche, mich auf die Worte zu konzentrieren, die ich sagen will, als ich spüre, wie sich eine Hand fest auf meine Schulter legt.
    «Willst du etwas sagen, Kamerad?», fragt der Mann neben mir herzlich, und auf einmal scheint seine Hand auf meiner Schulter mich von meinen Gedanken zu erlösen, und aus meinem Mund kommen die unvermeidlichen Worte.
    «Mein Bruder ist gestern gestorben.» Das ist alles, was ich sagen wollte und musste, und aus irgendeinem Grund löst es ein gutes Gefühl aus, unbekannten Leuten das mitzuteilen. Nach dem Meeting werde ich noch häufiger und inniger umarmt als sonst. Normalerweise sind mir Umarmungen zuwider, aber jetzt gibt mir jeder Mensch, der mich in den Arm nimmt, Kraft, und das Mitgefühl in ihren Worten ist aufrichtig. Draußen fühle ich mich erleichtert, der Druck in meinem Kopf hat abgenommen, und der Herzschlag ist ruhiger. Ich atme die kühle Luft ein und bemühe mich, dass mein Kopf leer und die Gedanken leicht bleiben.
    «Dürften wir dich kurz sprechen, Kamerad?» Ich brauche einen Moment, bis ich die beiden Männer einordnen kann, und erinnere mich dann an die morgendliche Sitzung auf dem Polizeipräsidium.
    «Ich grüße euch.» Ich schüttele beiden die Hand. Der Ältere gibt auch hier wieder den Ton an, schaut aber immer wieder peinlich berührt zu dem Jüngeren, als ob er nicht wüsste, wie er anfangen soll.
    «Ich möchte dir mein herzlichstes Beileid wegen deines Bruders aussprechen», sagt er, und der Jüngere plappert die Beileidsbekundung nach. Ich danke ihnen und warte auf ihr Anliegen, aber als nichts kommt, sage ich, dass sie sich an Iðunn wenden müssen, um Neuigkeiten zum Fall zu erfahren, ich sei nicht länger an den Ermittlungen beteiligt. Sie nicken und werfen sich einen Blick zu.
    «Es herrscht eine ziemlich gespannte Atmosphäre in den Gruppen», sagt der Ältere, und der Jüngere pflichtet ihm bei. «Unter den Leuten hat sich eine große Furcht ausgebreitet, und die Meetings werden nicht mehr so gut besucht.»
    «Das tut mir leid zu hören», sage ich.
    «Wir müssen alle unser Möglichstes tun, die positive Stimmung in den Meetings zu bewahren, und versuchen, diese Sache nicht unnötig aufzubauschen, um es mal so zu sagen», fährt der Ältere fort.
    «Vollkommen einverstanden», sage ich und verstehe immer noch nicht, was sie wollen.
    «Es wäre vielleicht besser für uns, traurige Themen mit dem Vertrauensmann zu besprechen und in den Meetings lieber erbauliche Ratschläge vorzutragen.» Der Ältere fixiert mich mit seinem Blick.
    «Besser für uns?», wiederhole ich wie ein verständnisloses Kind.
    Der Jüngere beugt sich zu mir vor und zischt durch die Zähne:
    «Besser für dich.» Die Heftigkeit bringt mich aus der Fassung;

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