Zwölf Wasser Zu den Anfängen
schmelzen, als hielte jemand eine unsichtbare Fackel daran. Babu konnte sich aus der unbequemen, erniedrigenden Stellung erheben. Er rieb sich die schmerzenden Handgelenke; die Haut an den Handballen war abgeschürft. Er schwankte, stand unsicher, seine Füße waren noch taub.
»Setz dich ans Feuer«, sagte Reva, ohne den Blick von der Stadt in den Wolken zu nehmen. »Wärm dich auf.«
Babu humpelte zum Feuer, ließ sich neben dem bleichen, reglosen Felt nieder, auf den die Wärme bisher noch keine Wirkung zu haben schien.
»Ich habe das Wasser verschüttet«, sagte Reva, die ihm ein paar Schritte gefolgt war und nun in ihrer ruhelosen Art vor den beiden Männern auf und ab ging. »Du wirst noch einmal welches holen müssen.«
Der Becher lag in einer Pfütze, das Wasser verschwand bereits, sickerte in den zerfurchten Stein. Nur eine dunkle Spur führte noch bis zu der Stelle, an der Babu von den Eisstiefeln festgehalten worden war. Reva beherrschte eine Magie, von der Babu noch nie gehört hatte. Sie konnte mehr, als aufs Essen zu verzichten. Das hätte ihm auffallen müssen. Aber sie hatte sich immer im Hintergrund gehalten während der paar Tage, die sie zusammen gereist waren, und als dann Nuru erschienen war, hatte Babu ohnehin alles andere vergessen. Aber nun, als er da saß, mit kalten, nassen Füßen und aufgewühlt vom misslungenen Selbstmordversuch, spürte er ihre Anwesenheit so deutlich, als sei sie aus einem Schatten getreten. Babus Beine begannen zu kribbeln.
»Also gut«, sagte Reva und blieb kurz stehen. »Eins vorweg: Es gibt kein Wesen auf dem Kontinent, von dem die Undae weniger wissen als von den Szaslas. Aber ich denke, das ist immer noch weit mehr, als du weißt.«
Sie ging weiter, Babus Augen folgten ihr und die Linien auf ihrer Haut erschienen ihm sehr weiß.
»Ich will dir sagen, warum das so ist, aber ich muss ein wenig ausholen, damit du begreifst: Alles Leben ist mit dem Wasser verbunden und durch jede Unda, auch durch mich, strömt der ewige Kreislauf vom Werden und Vergehen in unserer Welt. Nichts ist uns zu gering, um es zu bemerken, wir achten sein Wachsen genauso wie sein Sterben. Denn wir sind die Wächterinnen, wir lesen das Wasser und das Wasser macht keinen Unterschied: Die Merz stillt deinen Durst und den deiner Kafur. Der Regen fällt auf deine Schultern und auf die Rücken deinerKafur, ins Gras der Steppe, auf die Blätter der Bäume, auf Stein – es ist gleich, der Regen macht keinen Unterschied, er fällt, ob du ihn brauchst oder nicht. Und wenn du jetzt sagst, es gibt eine Wüste, in der kein Wasser ist, kein Regen, kein Fluss, dann muss ich fragen: War das immer so? Bloß weil du es nicht anders
kennst
, heißt das nicht, dass es nicht anders
war
. Und wieder anders sein wird. Was auch geschieht, die Undae werden es erfahren, früher oder später. Die Undae wissen auch von dir, Babu, ich weiß von dir, ich wusste von dir, bevor wir uns begegnet sind.«
Bevor
sie sich begegnet waren? Er machte den Mund schnell wieder zu, aber sie hatte es trotzdem gesehen.
»Aber: Ich weiß nicht, was du denkst. Ich kann nicht voraussagen, wie du handelst. Du bist mir nicht nah – ich kenne dich nicht, ich weiß nur von dir.«
Babu hatte keine Zeit, sich zu wundern, denn Reva sprach weiter.
»Du bist nun einmal in dieser Welt und kannst dem Kreislauf, dem Strom, dem Werden und Vergehen nicht entkommen. Nicht hier. Aber, und das wird dich interessieren: Die Szaslas sind nicht von dieser Welt. Sie kommen aus Wiatraïn, aus der Stadt im Wind, der Stadt über den Wolken. Sie sind nicht eingebunden in den Kreislauf, sie fliegen einfach darüber hinweg, sie folgen den Wegen des Windes. Und das sind Wege, die eine Unda nicht gehen kann …« Sie verstummte und ihr Blick richtete sich wieder auf die Stadt – Wiatraïn. Ob immer noch Szaslas dort waren? War Juhut deshalb dorthin geflogen? Eine leise Hoffnung keimte in Babu auf.
Reva fuhr fort: »In der Alten Zeit nun, als die Menschen zahlreicher wurden, als sie ihre eigenen Sprachen fanden, übertönten sie damit allmählich die Stimmen der Natur. Sie hörten lieber einander zu, als auf das Flüstern des Wassers oder dasRauschen des Windes zu lauschen. Sie suchten ihresgleichen, sie schlossen sich zu Gemeinschaften zusammen. Und so wurden die Menschen stärker, sie konnten dem Bösen gemeinsam gegenübertreten. Sie begannen, die Ungeheuer vom Angesicht des Kontinents zu vertreiben. Aber was sich nach einem guten Ende
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