Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Titel: Zwölf Wasser Zu den Anfängen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Greiff
Vom Netzwerk:
frei. Aber je weiter sie sich vom Baumriesen entfernten, desto lichter wurde das Gewirr. Auf welche Weise nun diese Wurzeln der Welt den Kontinent festhielten und davor bewahrten, in den unermesslichen Berst zu stürzen, war Felt im Grunde gleichgültig. Wichtiger war, ob sie bis zur Stadt reichten.
    Felt blickte auf die schmalen Schultern der vor ihnen gehenden Unda. Sie hatte die Kapuze wieder übergezogen und steuerte unbeirrt auf die Stadt zu. Mit einem Mal war sie ihm so fremd, wie sie es ganz zu Beginn ihrer Reise gewesen war.
    Felts Gemüt verfinsterte sich zusehends, während sich der Abend über den Berst legte. Um sich aus dem Trübsinn zu befreien, hielt er Ausschau nach einem Tor, überlegte, wie und wo sie in die Stadt gelangen konnten und welchen Empfang sie von den Bewohnern zu erwarten hatten. Im Geiste ging er alle Hiebe und Paraden durch, die er mit links ausführen konnte. Er wusste genau, dass er sich über das Falsche Gedanken machte, aber er konnte nicht anders.

 
    ZWEITES KAPITEL
KLETTERN
     
    Es gab kein Tor. Es gab auch keine Stadtmauer. Jedenfalls keine, die wie üblich aus einzelnen Steinen gebaut war. Sie standen im blassen Licht des hoch über der Stadt hängenden Mondes auf einer sanft gerundeten Terrasse. Und vor einem Rätsel.
    Reva hatte sie mit traumwandlerischer Sicherheit über einen der wenigen letzten Pfade hierhergeführt. Nun kamen sie nicht weiter. Vor ihnen erhob sich eine Wand, die sich über sie hinauswölbte. Felt dachte an eine große Schneewehe, Babu sagte: »Als ob man im leeren Brustkorb eines Riesenkafurs steht.«
    Felt strich über die glatt geschmirgelten Steinrippen, bückte sich, fuhr durch den körnigen Sand, mit dem die Terrasse bedeckt war. Nahm eine Handvoll.
    »Jetzt verstehe ich, was ›Stadt im Wind‹ bedeutet. Der Wind hat Wiatraïn gebaut. Herausgeschliffen aus dem Stein.«
    Er ließ den Sand zu Boden rieseln, ein Luftzug griff danach und warf ihn gegen die Wand. Der Wind verstärkte sich, es staubte, Babu und Felt traten zurück in den Schutz der Wölbung, die Hände vor den Augen. Reva rührte sich nicht. Die Kapuze bedeckte ihr Gesicht bis über die Nase, der Wind drückte sie noch tiefer, zerrte an ihrem Gewand. Es machte ihr nichts,sie blieb stehen, ganz in sich selbst versunken. Langsam wurde es gefährlich, denn das waren keine Böen mehr, das war ein kräftiger, unangenehmer Luftstrom, der stetig weiter anschwoll. Es war schwer, eine Richtung auszumachen. Der Wind griff die Männer seitlich an, dann wieder stürzte er sich von oben über die vorspringende Kante der Steinwelle auf sie, im nächsten Moment fuhr er über den Boden, warf ihnen Sand gegen die Stiefel, drückte sie noch fester gegen die Wand und raste aufwärts über sie hinweg. Dies alles geschah in so raschem Wechsel, dass Felt den Eindruck hatte, inmitten einer wütenden Menschenmenge zu stehen, die von allen Seiten auf ihn einschlug. Sprechen war nicht möglich, denn der Wind tobte nicht nur, er lärmte auch. Er dröhnte über die steinernen Rippen, er knirschte durch den Sand, er heulte über die Kante, er griff die Köpfe der Männer und brüllte ihnen in die Ohren. Reva schwankte bedrohlich. Wenn der Wind sich für eine Richtung entschied und es wäre die falsche, würde er die Unda einfach von der Steinterrasse wehen und in den Berst stoßen. Felt kniff die Lider zusammen   – Revas Silhouette zitterte verschwommen hinter dem Tränenschleier, der sich über seine Augen gelegt hatte. Er musste sie da wegholen. Er versuchte auf die Knie zu gehen, um zu ihr zu kriechen. Doch der Wind drückte ihn hoch, stemmte sich mit vielen Händen gegen ihn, presste ihn mit dem Rücken gegen die Wand. Hilflos mussten Babu und Felt mit ansehen, wie der Wind Reva die Kapuze vom Kopf zerrte und die Unda ins Hohlkreuz bog, damit er sie durchbrechen konnte. Ihre Füße waren wie festgenagelt, die Beine steif im Schraubstock der Luft, der Oberkörper weit nach hinten gelegt. Ein wenig weiter noch und ihr Rückgrat würde knicken wie ein Trieb, den man zu unvorsichtig zurückgebunden hatte. Mit einem Schrei sammelte Felt alle seine Kräfte, warf sich gegen den Wind.
    Und landete unsanft auf Stein. Der Luftstrom war abgerissen,so vollständig, so unerwartet, dass Babu ein erschrecktes Stöhnen entfuhr. Felt rappelte sich auf. Die plötzliche Stille machte ihn glauben, er sei taub geworden. Dann hörte er ein Wispern. Ein gehauchtes Wort an seinem Ohr, eine federweiche Berührung im Nacken, die ihm

Weitere Kostenlose Bücher