Zwölf Wasser Zu den Anfängen
weitergereicht. Schon früh hatten die Merzer festgestellt, dass die Gerberbrühe auch Blutungen stillte und Verletzungen schneller heilen ließ. Sogar manche Fieber ließen sich damit behandeln. Es war bittere Ironie, dass die Basis ihrer Medizin, der Sud, in dem Haut zu Leder wurde, gleichzeitig Auslöser der langsam fortschreitenden, aber immer mit dem Tod endenden Derst-pir, der Gerberkrankheit, war. Wenn ein Gerber sich nicht mehr erinnern konnte, wann er welche Häute in welchen Bottich gelegt hatte oder wann es Zeit wurde, das Bad zu wechseln, hatte er meist nur noch drei Soldern zu leben, manchmal fünf. Im Laufe dieser Zeit nahmen seine Haut und das Weiß seiner Augen eine gelbliche Farbe an, die Handinnenflächen wurden rot – dies gab der Krankheit auch den Namen:
Derst-pir
, rote Hand. Die Gerber nahmen es gelassen: Das war der Preis, den sie für ihre Kunst zu zahlen hatten. Erkrankte wurden von den Bottichen abgezogen und in die Kahlung geschickt, wo die Arbeit zwar schmutziger war, aber weniger Konzentration erforderte.
Babu war auf der Suche nach Meister Dant, dem Gerber, der auch den Thon mit Ledersachen und Fellen belieferte. Jedes Mal verirrte Babu sich zwischen den Zelten und Gruben, den zum Trocknen aufgespannten Häuten, den Stapeln, Bündeln, Haufen, den dampfenden Kesseln, in denen der Sud angesetzt wurde, den langen Leinen, an denen trocknende Kräuter hingen, den Steinmühlen, wo sie gemahlen und gemischt wurden.
Endlich: ein steigendes schwarzes Pony, gemalt auf ein fast durchsichtig dünnes Stück Leder – Babu hatte den Meister gefunden. Er hockte zwischen mannshohen, sauber geschichtetenund verschnürten Lederstapeln, eine eng beschriebene Rolle Pergament vor der Nase. Wahrscheinlich eine Bestellung, die er kontrollierte. Wie die meisten Merzer konnte er nicht lesen, denn die Grasleute waren kein Büchervolk – was er sich dicht vor die Augen hielt, war nichts weiter als eine Strichliste.
»Seid gegrüßt, Meister Dant, was machen die Geschäfte?«
»Oh!«
Meister Dant kam schnell auf die Füße. Auch wenn seine Haut aussah, als hätte er sie sich selbst über die hohen Wangenknochen gegerbt und vergessen, sie danach zu spannen, war er noch nicht alt.
»Der hochverehrte Badak-An-Bughar aus dem Clan der Bator, der Sohn des Friedens, ehrt uns mit seiner Anwesenheit!« Er lachte. »Babu, wie schön, dich zu sehen. Komm näher, komm näher!«
Er strich Babu mit seinen harten, trockenen Fingern über die Wangen.
»Na, so langsam wird ein Mann aus dir. Soll ich weiterschwatzen oder erzählst du mir freiwillig, was dich zu mir führt?«
»Ich brauche Leder, manches fest und anderes weich, das beste, das es gibt. Und das bekomme ich nur bei Euch, Meister Dant.«
»Sicher. Komm nächstes Solder wieder! Mein Lager ist leer, da, schau, alles schon verpackt, alles schon verkauft.«
»Was um alles in der Welt will der Thon mit so vielen Häuten?«
»Oh, das ist nicht für den Thon.« Er beugte sich vor und senkte die Stimme. »Jedenfalls nicht direkt. Das ist alles für die Falkner.«
Ein wahrhaft fürstlicher Lohn. Babu schwieg, hier gab es nichts zu verhandeln. Er konnte sich nicht gegen einen Befehldes Thons stellen und noch viel weniger konnte er die Falkner um ihre Bezahlung bringen, selbst wenn sein Bedarf nur ein winziger Bruchteil der für sie bestimmten Menge an Leder war. Das wäre Betrug, der auf den Meister zurückfiele, sollte er entdeckt werden. Meister Dant sah, wie betrübt Babu war. Er rollte das Pergament ein und steckte es sich in den Ärmel.
»Wozu, wenn ich fragen darf, brauchst du mein Leder?«
Zur Antwort zog Babu den Handschuh mit Gurten und die Haube aus dem kleinen Sack, den er mitgebracht hatte. Meister Dant befühlte die Gegenstände, schnaubte und bedauerte das Tier, das für eine solch schlechte Arbeit seine Haut hatte lassen müssen.
»Hm, verstehe«, murmelte er. »Wenn das so ist, sehe ich nur einen Ausweg …«
»Bitte, Meister, das kann ich nicht verlangen!«
»Ich werde wohl«, fuhr Dant listig fort, als habe er Babus Einwurf nicht gehört, »mein Geheimlager plündern müssen. Komm mit mir, Babu.«
Flink bewegte sich Dant durch die Stapel und führte Babu durch einige miteinander verbundene Zelte bis direkt vor eine Zeltwand. Babu musste lächeln: Der Meister war in der Tat der kurzsichtigste Mann der ganzen Horde. Aber dann fuhr Dant langsam mit zwei Fingern über die Zeltwand und im eben noch vollkommen unversehrten Leder
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