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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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machen, aber er wird dich immer an die verborgene Schönheit dieser Höhle erinnern. Solche Kristalle sind zu weich, um wertvoll zu sein. Obwohl dieser hier außergewöhnlich klar ist. Schau mal hindurch.«
    Babu klappte vor Staunen der Mund auf, als er sich durch den Kristall hindurch in der Höhle umsah.
    »Es ist ein Zweispat, man sieht ein Doppelbild, wenn man hineinschaut. Manche behaupten auch, sie könnten das wahre Wesen eines Menschen erkennen, wenn sie einen solchen Kristall auf ihn richten.«
16
    Er ist wieder im Langen Tal, aber diesmal ist es Nacht. Babu sieht keine Sterne; der Himmel ist bewölkt und hängt tief. Die Wolken scheinen aus Stein zu sein, der Himmel wirkt wie das Deckengewölbe einer gigantischen Höhle. Der Gedanke, hier frei zu sein und atmen zu können, war ein Irrtum. Sogleich lastet das ganze Gewicht dieser ungeheuren Gesteinsmasse auf ihm und er sinkt auf die Knie. Wie konnte er sich nur so täuschen? Er merkt, dass er etwas in der Hand hält, und ist erleichtert, dass es nicht ein blutiger Dolch ist. Sondern der Zweispat. Es ist dunkel, trotzdem kann er den Kristall gut sehen und auchdie hohen, wogenden Halme des Graslands ringsum. Er würde sich gern selbst durch den Kristall hindurch betrachten und sein wahres Wesen erkennen. Kaum gedacht, verwandelt sich dieser Wunsch in eine Schreckensvorstellung   – was würde er wohl sehen?
    Das, was du bist.
    Er fährt zusammen. Das war die Stimme, die er schon einmal gehört hat! Die Stimme einer Frau. Welcher Frau? Steht sie hinter ihm? Er dreht sich um, bleibt aber auf den Knien.
    Durch das Gras kommt keine Frau, sondern ein riesenhafter schwarzer Krebs auf ihn zu. Seine wuchtigen Scheren drücken das Gras in einer breiten Schneise nieder. Statt aufzuspringen und wegzulaufen, hält er sich den Zweispat vors Auge. Im Kristall sieht er nun zwei große schwarze Kreaturen auf sich zukommen. Er sieht den Krebs.
    Und er sieht einen Wolf.
    Niemals hat er eine größere Verzweiflung empfunden. Er schreit, weint, es war alles umsonst. Der Wolf ist seiner Spur gefolgt, er kann ihn niemals abschütteln. So sehr er sich auch anstrengt, er kann nicht vergessen. Er weiß noch genau, wo die Rache begraben liegt. Er hat sich selbst betrogen. Er ist schwach.
    Du bist das Tor , sagt die Stimme.
17
    Felt hatte seit Längerem die Ahnung, dass Babus Stirnband nicht nur dazu diente, die langen Haare aus dem Gesicht zu halten. Es verbarg etwas, vielleicht eine entstellende Narbe. Und vielleicht war die Verletzung noch nicht allzu lange her, denn der junge Merzer fuhr sich immer wieder mit den Fingern über die Stirn   – entweder eine dumme Angewohnheit oder das Juckender Heilung. Oder hatte er Schmerzen? Felt fragte nicht nach. Es war kein eigentliches Desinteresse, was ihn davon abhielt, sondern das Gefühl, es ginge ihn nichts an. Dabei waren sie schon so lange zusammen unterwegs und hatten Dinge erlebt, die Menschen normalerweise eng zusammengeschweißt hätten. Unter Männern, die gemeinsam bis ans Ende ihrer Welt gegangen und es überschritten hatten, die zurückgekehrt waren, die gehungert hatten, die einander das Leben gerettet hatten, wäre die Frage Was ist mit deiner Stirn, hast du Kopfschmerzen? einfach zu stellen gewesen. Felt fragte dennoch nicht. Er war nicht mehr aufmerksam genug. Es ging ihn nichts an und er kam nicht darauf, dieses Gefühl dem Versiegen einer Quelle zuzuschreiben. Deshalb setzte er sich auch nicht bewusst über sein Desinteresse hinweg – genau das hätte er jedoch tun müssen. Felt würde sich sein Versäumnis später immer wieder vorwerfen. Aber jetzt fühlte er sich einfach müde und orientierungslos; sie waren nun schon lange unter Stein.
    Auch Babu war zunehmend bedrückter, sagte kaum ein Wort und schleppte sich geradezu dahin. Es war wirklich zu hoffen, dass sie bald wieder einen Streifen Himmel über sich hatten. Der Anblick des Falken würde Babu sicher aus seinem Trübsinn befreien. Nach ihrer Rast bei dem mannshohen Tropfstein hatten sie einen Ausgang aus der Kristallhöhle gesucht, schließlich mehrere Tunnel gefunden und den geräumigsten genommen. Sie tappten schweigend hindurch, ruhten abwechselnd: Während der eine sich in den kalten, aber trockenen Schotter unter einem Vorsprung in der Tunnelwand legte, hielt der andere Wache. Wie oft sie das inzwischen wiederholt hatten, wusste Felt nicht mehr, er verlor sein Zeitgefühl. Hatte Reva nicht etwas Ähnliches gesagt? Hatte sie nicht gesagt, sie wisse nicht,

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