Zwölf Wasser
starrte auf Babu, auf dessen Stirn, aber er sah in die Vergangenheit. Felt sah Gerder, der umringt war von großen schwarzen Schatten. Es waren Bestien, dämonische Kreaturen mit scharfen Zähnen, hartem Fell – und kochend heißem Blut. Felt sah Gerder schreien, sah, wie er sich vor Schmerzen wand, den Armstumpf umklammerte, und er hörte das Röcheln. Das Blut eines sterbenden Wolfs erstarrte auf Gerders Brust zu einem steinharten Panzer, der ihm die Luft nahm.
»Wir konnten Gerder nicht vom Boden lösen«, sagte Felt langsam, noch immer umfangen von der Erinnerung an das furchtbare Massaker vor der Höhle. »Er war ganz mit einer harten Blutkruste bedeckt … Ist das wahr, Babu? Trägst du einen Splitter von diesem Blut in deiner Stirn?«
Er nickte kaum sichtbar, sah mit glänzenden Augen zu Felt auf. Dem kam ein weiterer Verdacht.
»Das war wohl gar nicht die erste Begegnung, dein erster Kampf mit diesen Bestien, als du mir das Leben gerettet hast?«
»Ich habe die Wölfe verfolgt, eine sehr lange Zeit. Schon da hatte ich das Gefühl, sie waren überhaupt nur da, weil ich sie verfolgte. Sie waren meine Rache und mein Hass, meine Wut und meine Verzweiflung. Die Wölfe sind durch mich in diese Welt gelangt, ich weiß nicht, wie … Wenn es sich nicht so seltsam anhören würde, würde ich sagen, sie wurden in meinem Schmerz geboren.«
Teleia nahm den Wasserkrug und reichte ihn Babu. Während er trank, strich sie ihm über die Haare. Es war immer wieder berührend, welche Gewissheit in jeder von ihren Gesten war. Felt spürte einen heißen Kloß in seinem Hals.
»Das mag sich zwar seltsam anhören«, sagte Reva zu Babu,»aber es kann dennoch wahr sein. Ich glaube, es ist nicht notwendig, den alten Schmerz in allen seinen Schichten zu erforschen, um zu verstehen, was dich heute quält. Nehmen wir hin, dass diese Wölfe durch dich in die Welt kamen.«
»Verzeiht mir, bitte. Felt, es tut mir so leid …«
Babu kämpfte gegen die Tränen, sah flehend zu Reva, zu Felt und dann zu Boden. Teleia legte ihm eine Hand auf den Rücken und blickte Felt an.
»Aber«, sagte der und räusperte sich. Der Kloß in seinem Hals wollte sich nicht recht auflösen. »Was gibt es denn zu verzeihen? Hier geht es doch nicht um Schuld, oder? Ich sehe nicht, dass du schuldig bist. Ich sehe, dass du benutzt worden bist, Babu. Du warst doch nicht derjenige, der diese Bestien heraufbeschworen hat – du hast sie bekämpft! Deshalb stehe ich doch überhaupt noch hier!«
Von Satz zu Satz war Felts Stimme fester geworden. Aber keiner antwortete. Teleia ging wieder zu ihren Broten und fuhr fort, Teiglinge zu formen. Zwischen ihren hellblonden Augenbrauen war eine senkrechte Falte aufgetaucht.
Reva schwieg.
Das Ofenhaus war mit einem Mal von einer angespannten Stille erfüllt, die Felts Versuch, Babu die Schuld abzusprechen, scheitern ließ.
Das waren keine Wölfe.
So klar und deutlich hörte Felt Wigos Stimme, dass er sich beherrschen musste, sich nicht nach ihm umzudrehen. Die Wölfe waren – ganz so, wie Babu gesagt hatte – Gestalten der Angst, der Wut, der Rache. Es waren Dämonen des Entsetzens. Das hatte Felt bereits in Wiatraïn begriffen, genau an diesem Punkt war er schon einmal angelangt, nachdem Reva aus Wigos Aufzeichnungen vorgelesen hatte. Der hatte beschrieben, wie in jedem Menschen viele Fähigkeiten wohnen konnten, unddass jeder Mensch sein Seelengebäude unterschiedlich einrichten würde. Manche stellten Herzlichkeit und Großmut hinein, andere Tapferkeit, Willensstärke oder Weisheit. Manche Menschen nähmen von allem etwas, andere von einem viel. Dann aber hatte Wigo die eine Kammer des Seelengebäudes angesprochen, in der Finsternis war. Jeder Mensch hatte eine solche Kammer. Sie müsse immer verschlossen bleiben, denn den Schrecken zu begegnen, die in einem selbst wohnten, das überstehe man nicht, das sei zu entsetzlich. Damals hatte Felt sich gefragt, wessen Grauen so groß gewesen war, dass es aus seinem Innern bis hinein in die Wirklichkeit gelangen konnte. Wer hatte die Kammer, in der die Schrecken wohnten, nicht sorgfältig genug verschlossen? An wessen Tür hatte Asing gerüttelt?
Nun wusste er es.
»Manchmal gibt es mehr als eine Wahrheit«, sagte Teleia. »Manchmal kann einer schuldlos schuldig werden. So gern die Menschen sonst nach Zwischenlösungen suchen, in Schuldfragen ist der Wunsch nach Klarheit groß. Wenn es keine Klarheit gibt, heißt es: Er mag zwar nicht schuld sein, aber die
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