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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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die Bäume liebten Teleia. Während die Nüsse reiften, war Teleia in einer besonderen Stimmung: einerseits sehr zugänglich und sanft, andererseits vorsichtig. Ganz so wie eine Frau, in der eine Leibesfrucht heranreift. Dies war die beste Zeit, um sie aufzusuchen, wenn man Rat wollte oder Hilfe nötig hatte. Teleia war dann etwas mitfühlender und nicht ganz so schonungslos mit ihren Wahrheiten. Direkt sei sie aber immer, damit müsse man eben zurechtkommen.
    »Man kann nicht die Quellhüterin der Wahrhaftigkeit aufsuchen und Diplomatie erwarten«, hatte Reva Melrundens Ausführungen ergänzt. »Hier ist alles, wie es ist   – es gibt keine Schleier und keinen doppelten Boden, keine Ausflüchte und keine Kompromisse. Und es ist bemerkenswert, wie rasch ein Mensch hier an seine Grenzen kommt. Teleias Nähe wird schnell unerträglich. Denn kein Mensch ist so eins mit sich, wie die Hüterin es ist   – außer Melrunden.«
    Die Alte hatte lachend abgewunken. Aber es stimmte natürlich: Melrunden verbarg ihr Gähnen nicht, wenn sie müde war, sie lächelte nicht aus Höflichkeit und sie hatte Felt direkt ins Gesicht gesagt, er sehe alt aus für seine vierzig Soldern und mit dem fehlenden Zahn auch nicht besonders gut. Das und seine verkrüppelte Hand würden es ihm nicht erleichtern, eine Frau zu finden   – und wenn er eine hätte, sie zu halten. Er solle sich bloß nicht darauf verlassen, dass Frauen mehr auf das Wesen eines Mannes gäben, auf sein gutes Herz und einen aufrechten Sinn   – das sei zwar so, aber es gäbe auch hübsche Männer mit gutem Charakter. Felt hatte dazu nichts sagen können. Estrid hatte sich von ihm getrennt oder, wie sie es sah, er sich von ihr. Denn er war gegangen, hatte sie verlassen. Sie konnte tun, was sie wollte. Es wäre sogar vernünftig, wenn sie sich einen neuen Mann suchte. Dennoch: Der Gedanke, dass Estrid sich von ihm abgewandt hatte, war quälend genug. Dass sie sich einem anderen zuwenden würde, war nicht auszuhalten. Natürlich hatte aber nicht nur Melrunden, sondern auch Teleia Felt genau darauf angesprochen.
    »Was tust du, wenn du zurückkehrst und deine Frau hat einen neuen Mann?«, hatte die Hüterin ihn gefragt   – ohne einen gehässigen Unterton, aber auch ohne Mitleid.
    »Ich habe bisher nicht gewagt, darüber nachzudenken«, hatte Felt geantwortet und Reva hatte es übersetzt.
    »Das ist doch keine Sache des Denkens«, hatte Teleia gesagt und wieder war es kein Tadel, sondern eine bloße Feststellung. Das änderte aber nichts an der Grausamkeit, die ihr innewohnte.
    Heute früh aber ging es nicht um Felt, sondern um Babu. Was er sich angetan hatte, war ungeheuerlich. Warum hatte er sich derart verletzt? Was hatte es mit diesem schwarzen Auge auf sich? Das wollten sie von der Hüterin erfahren.
    »Wenn Babu ihr nicht sagt, was ihn umtreibt, wem dann?«, meinte Felt mehr zu sich selbst, aber Reva übersetzte, was sich anhörte wie ein Echo.
    Teleia unterbrach ihre Arbeit nicht. Sie bestrich die aufgereihten Teiglinge mit Wasser aus einem Krug.
    »Ich verstehe Babu nicht und dennoch höre ich: Er lügt, sobald er den Mund aufmacht. Das geschieht aber nicht in böser Absicht. Er ist es so gewöhnt und kann nicht anders. Er bemerkt es nicht einmal, denn er belügt sich auch selbst. Die meisten Menschen achten kaum darauf, wie oft sie jeden Tag die Unwahrheit sprechen. Es macht die Gemeinsamkeit einfacher, wenn auch nicht leichter. Kleine Lügen sind ein Schmiermittel für das Zusammenleben; große Lügen aber verkleben und verdrecken jedes Gefühl füreinander. Zuletzt weiß man nicht mehr, was man vom anderen halten soll, und was man von sich selbst hält, das wird auch fraglich.«
    »Du meinst also, er sagt nichts über sich, weil er nicht weiß,was er von sich selbst halten soll?«, fragte Felt. Teleia antwortete nicht gleich, sie stocherte im Ofen. Reva jedoch sprach weiter, nachdem sie Felts Frage übersetzt hatte, und gab ihm Antwort.
    »Babus Welt hat nur aus Lügen bestanden, bis er das Lange Tal verlassen hat. Er hat mir erzählt, wie viel Verrat ihm in seinem jungen Leben bereits begegnet ist. Sein Onkel, der Thon, hat seinen eigenen Bruder, Babus Vater, ermorden lassen, damit ihm die Macht sicher war. Und er hat Babu beobachten lassen durch dessen besten Freund   – Jator. Als nun die Szaslas zu den Merzern kamen, ist einiges in Bewegung geraten. Für Babu hat sich ein Unglück ans nächste gereiht, der ganze Betrug ist offenbar geworden. Er hat

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