Zwölf Wasser
ehrliches, warmes Herz. Es ist meine Schwäche, meine ganz allein, dass ich der Jugend hinterherseufze. Aber wenn du glaubst, es sei einfach, alt und gebrechlich zu sein, dann irrst du. Ich kann mich nur ganz schlecht damit abfinden, nicht mehr jung zu sein – dabei hatte ich wahrlich Zeit genug, mich an das Alter zu gewöhnen. Dennoch! Diese Hügel waren vor mir hier; sie werden hier sein, wenn ich nicht mehr bin. Die Lindbäume waren vor mir hier; sie werden hier sein, wenn ich nicht mehr bin. Was mache ich für einen Unterschied in der Welt? Was ist mein Leben wert gewesen? Das frage ich mich jeden Tag, jeden Tag …«
Ihr Sprechen wurde zum unverständlichen Brabbeln, schließlich verstummte sie ganz. Felt hätte gern einige tröstende Worte gesagt, aber sie verstand ihn ja nicht. Dann dachte er, dass es ohnehin besser sei zu schweigen. Was sollte das für ein Trost sein – einmal werden wir alle alt ? Erstens stimmte das nicht, Felt brauchte sich nur den kleinen Lerd in Erinnerung zu rufen, der in seinem Bett verhungert war. Zweitens nützte es nichts, ein Leben mit einem anderen zu vergleichen. Ja, sterben, das mussten alle. Hatte dieses Wissen je einem Sterbenden geholfen? Und was nützte es Felt, dass auch andere Soldaten Finger oder Zehen verloren hatten, weil sie ihnen während der Wache abgefroren waren? Seine Soldaten hatten gelitten, er hatte ebenfalls gelitten. Er konnte kaum einen Becher in der Rechten halten, so schwach und ungeschickt war die Hand nun. Der Gedanke, dass es irgendwo jemandem ganz ähnlich ging, verhinderte nicht, dass ihm hier und heute der Becher aus der Hand glitt. Melrunden fiel es also schwer, alt zu sein und bald sterben zu müssen? Je nun, warum auch nicht? Musste denn jede Greisinmilde auf ihr Leben zurückblicken, durfte sie nur mit einem versöhnlichen Lächeln auf den dürren Lippen die Augen für immer schließen? Das war Wunschdenken. Melrunden hatte das Recht, ihr eigenes Sterben zu bedauern. Trotzdem wäre es Felt lieb gewesen, sie hätte ihn nicht auf diese Gedanken gebracht, sondern ihm einfach etwas erzählt. Er rieb sich die Oberarme; er hatte keine Decke dabei, und obwohl die Sonne nun über die Hügel stieg, war es in Hemd und Wams kalt auf der Bank. Felts Bewegung holte Melrunden aus ihrer Träumerei.
»Oh, ich dummes Nüsschen! Du frierst!«
Felt winkte ab. »Da bin ich ganz anderes gewohnt. Der Firsten hier ist wie ein kühler Lendern bei uns.«
»Hm!«, machte sie und der Schalk blitzte aus ihren kleinen Augen. »Das klang sehr nach einer Angeberei! Ein richtiger Mann friert nicht, niemals, nicht wahr?«
Felt musste lächeln.
»Dachte ich’s mir doch.« Sie zog genüsslich ihre Decke bis zur Nasenspitze hoch und sagte gedämpft: »Geschieht dir recht! Jetzt musst du weiter ganz männlich so tun, als würdest du nicht frieren, während ich dir eine Geschichte erzähle! Und ich verspreche dir, sie ist nicht allzu kurz. Es ist die von den drei Schwestern und dem Jägersmann. Ganz so verstaubt ist mein Hirn noch nicht, ich weiß sehr wohl, ich habe sie noch nicht fertig erzählt.«
12
»Nun waren also die jüngste und die älteste Tochter im Wald verschwunden und die braven Leute waren sehr betrübt. ›Wer wird mir, wenn ich ganz klapprig geworden bin, die Stiefel von den Füßen ziehen?‹, fragte der Vater. ›Wer kocht mir, wenn ichkeinen Zahn mehr im Mund habe, eine gute Suppe?‹, fragte die Mutter. Sie dachten beide nicht daran, dass die mittlere Tochter dies ja tun könnte. Denn die war zwar ein liebes Kind, aber eigen. Der Vater glaubte von ihr, sie sei zu etwas Höherem berufen, als auf einem Hof zu arbeiten. Die Mutter meinte, ihr sei großes Leid vorherbestimmt, denn das Mädchen war bei Neumond geboren. In jener finsteren Nacht waren zudem drei Schwälbchen aus dem Nest in der Scheune gefallen, und das war ein schlechtes Zeichen. Als nun die mittlere Tochter den Eltern ankündigte, sie wolle in den Wald gehen und nach den Schwestern suchen, da weinten sie zwar, hielten sie aber nicht zurück. So ging sie also. Sie hatte keine Angst vor dem Wald, denn mit den Bäumen verband sie eine innige Freundschaft. Sie stand nicht wie ihre Schwestern traurig zwischen den Stämmen, sondern spazierte umher. Mal strich sie bewundernd einem alten Baumriesen über die Borke, mal stupste sie aufmunternd einem jungen Wildling die grünen Blättchen. Schließlich traf auch die mittlere Schwester auf den Jägersmann, der, wie sich jeder inzwischen denken
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