Zwölf Wasser
anpassungsfähig und er musste nicht, wie viele andere Seeleute, eine Augenbinde tragen. Unter einer solchen Binde verbarg sich meist nicht etwa eine leere Augenhöhle – wieso und wobei sollten auch so viele Seeleute ein Auge verlieren? –, sondern eines, was durchaus gesund war, aber immer abgedunkelt wurde, damit man sich schnell zurechtfand, wenn man vom Hellen ins Finstere unter Deck kam: Man nahm einfach die Binde weg und kniff das andere Auge zu.
»Käpt’n! Das musst du dir ansehen! Hab ich’s mir doch gedacht, dass die Kwother was Wertvolles dabeihatten! Hab ich’s mir doch gedacht!«
»Was denn? Was ist es denn?«, fragte Rigl, schon auf der Stiege.
»Musst du selbst sehen, glaubst du mir sonst nie!« Saiphs Stimme war gesättigt mit Triumph.
Nur langsam schälten sich die Umrisse einer großen, fest vertäuten Kiste aus dem Dunkel. Sie war so hoch, dass Saiph aufrecht darin stehen konnte, eine Seitenwand war heruntergeklappt. Der Steuermann wedelte offenbar mit den Armen, Rigl hörte das dicke, gewachste Tuch seines Mantels in der Dunkelheit knarren. Der Kopf mit den hellen Haaren schien in den Schatten zu schweben.
»Na, erkennst du’s?«, fragte Saiph aufgeregt. »Ist dir klar, was das ist? Alles mit Leder verkleidet, die ganze Kiste ist ausgeschlagen. Wenn du die Seitenwand da hochklappst, ist alles dicht.«
»Du meinst also, sie hatten einen Euler dabei?«
»Todsicher.«
Rigl hatte sich inzwischen so weit an die Dunkelheit gewöhnt, dass er sehen konnte, wie Saiph seine eigenen Worte mit heftigem Nicken bestätigte. Er trat näher, stolperte über etwas am Boden und fiel beinahe in die große Kiste. Rigl tastete. Ja, dickes, glattes Leder; er roch es jetzt auch.
»Hm, und was, glaubst du, ist passiert?«, fragte er seinen Steuermann. Rigl wusste genau, dass Saiph darauf brannte, seine Spekulationen zum Besten zu geben. Das tat er immer; zu jedem erdenklichen Thema, Problem oder Phänomen – und sei es auch nur ein Wölkchen am Himmel, wo kurz vorher noch keins gewesen war – wusste Saiph etwas zu sagen.
»Nun.« Er machte eine gewichtige Pause. »Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Zuerst ist festzuhalten, dass die Kiste nicht beschädigt ist. Überhaupt ist hier nur wenig Wasser eingedrungen, der Rumpf hat kaum Schaden genommen. Der Euler ist also nicht ausgebrochen und auch nicht zufällig freigekommen durchs Auflaufen auf die Felsen.«
»Sie haben ihn hoch an Deck geholt, weil sie Vortrieb brauchten.«
»Zum Bespiel, ja.«
»Und dann haben sie die Kontrolle verloren, er hat sich befreit. Und nebenbei dieses Schiff hier zerstört. Euler können extrem nachtragend sein.«
»Ich weiß, ich weiß.« Saiph machte eine wegwerfende Geste, Rigls Augen hatten sich nun ganz ans Dämmerlicht gewöhnt. »Aber vielleicht war es auch anders.«
»Und wie? Komm zum Punkt, Saiph! Wir müssen hier weg sein, bevor die Ebbe uns trocken legt.«
»Ja, weiß ich auch, weiß ich auch – aber: Was, wenn nicht der Euler der Grund für das Unglück hier war? Was, wenn’s ein paar überlebt und den Euler an Land geschafft haben? Nach dem Sturm, nachdem sie aufgelaufen waren? Sie haben ihn mitgenommen. Wäre doch möglich?«
»Hast du das Ruderboot also auch gesehen …« Rigl seufzte. Außer mit roher Gewalt wäre Saiph nun nicht mehr daran zu hindern, auch auf der Insel herumzustöbern. Und wenn Rigl etwas verabscheute, dann war es Gewalt.
16
»Es ist natürlich nicht sicher, dass da einer ist«, schränkte Saiph ein. Aber die Gesichter der Männer an Bord der Auriga leuchteten bereits. Ein Euler! Die Windwesen waren nur mit sehr alter Magie einzufangen und die beherrschte in Ingrien schon lange niemand mehr. In den Besitz einer solchen Kreatur konnte man nur kommen, indem man sie jemand anderem wegnahm.
»Das Beste wird sein, wir stimmen ab«, sagte Rigl. Er mochte keinen Streit. Außerdem hatte er als Kapitän fünf Stimmen. Die Besatzung bestand aus sechs Männern, Saiph eingeschlossen; sie müssten sich alle einig sein, um ihn zu überstimmen.Hätte die Mannschaft aus zehn Männern bestanden, hätte der Kapitän neun Stimmen gehabt – in Ingrien hielt man viel von Mitbestimmung, aber auch die hatte Grenzen.
»Ich sage: Wir fahren weiter.« Rigl blickte seine Männer ernst an. »Dies ist nicht die Zeit für Wagnisse. Der Krieg ist nah und unsere Passagiere haben schon genug Angst ausstehen müssen. Wir sollten zusehen, dass wir nach Hause kommen, die Fahrt ist lang
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