Zwölf Wasser
Nendsing, auch Glaron und Fander waren erschüttert, ebenso die gesamte Mannschaft. Es war ganz still an Bord geworden und die goldenen Augen der Kwother sahen überall hin, nur nicht auf die Unda. Kersted war wütend geworden und beinahe hätte ihn Eifersucht übermannt; er hatte seinenSchmerz ganz für sich allein haben wollen. Litt er denn nicht am meisten? Aber er sah ein, dass diese Neuigkeit alle entsetzen musste. Die Unda würde sie verlassen – er selbst konnte es ja auch immer noch nicht glauben.
Er fasste nach dem Beutel mit Quellwasser um seinen Hals. Es gab immer noch ein wenig Hoffnung, dass Utate zurückkehren konnte. Vielleicht konnte sie sich widersetzen, gegen den Weltenstrom schwimmen oder sich doch wenigstens nicht vollends von ihm davontragen lassen. Daran hielt sich Kersted fest. Als letzten Versuch hatte er noch vorgeschlagen, Utate eine Leine umzubinden, damit sie sie herausziehen konnten. Es war unwürdig, aber wen kümmerte das? Eine Leine konnte Leben retten; Kersted war im Gebirge aufgewachsen und wusste, was eine gute Seilschaft zu leisten vermochte. Utate hatte nur gefragt: »Und was willst du dann mit meiner Hülle anfangen?«
Entweder es gelang und sie tauchte selbst wieder auf. Oder sie blieb. Den Versuch aber, die Quelle zu retten, den musste Utate unternehmen. Und nachdem sie so lange gebraucht hatten, um sie zu finden, gab es nun keine Zeit mehr zu verlieren. Der Wind hatte nachgelassen, der Tag näherte sich seiner Mitte, die Wogen glätteten sich zusehends. An der Oberfläche wurde nun sogar das Quellwasser sichtbar – beinahe spiegelglatte große Flecken im kabbeligen, grüngrauen Meerwasser. Es war aber kein Süßwassersee im Salzwasser, an dessen Ufer sie gewissermaßen ankerten; da gab es nur noch kleine, versprengte Tümpel.
Kersted nickte knapp und vier Männer, die dunklen Gesichter zu Masken erstarrt, ließen das Beiboot hinab. Kersteds Herz begann heftig zu pochen. Es kam ihm vor, als wohne er einer Hinrichtung bei. Und er hatte so viel Zeit ungenutzt verstreichen lassen! Tausend Fragen sprangen Kersted nun durch den Kopf, die er Utate stellen wollte, und tausend Themen, die sie noch besprechen mussten. Er bereute keine Nacht, die er mitNendsing verbracht hatte – aber hätte er nicht die ein oder andere Stunde der Unda widmen sollen? Hunderte Soldern lang und noch länger hatten die Hohen Frauen geschwiegen. Er war nach all dieser Zeit einer von drei Auserwählten, die sie begleiteten. Kersted war elend, er fühlte die vertane Chance.
Und konnte es doch nicht ändern.
Das Boot schlug mit einem lauten Klatschen auf der Wasseroberfläche auf. Die Seeleute warfen Strickleitern über die Reling. Utate löste die Schließe ihres Umhangs am Hals und zog ihn aus. Sie reichte ihn Nendsing, die Utate mit tränennassen Augen verstört ansah.
»Verwahre ihn oder trage ihn, das überlasse ich ganz dir. Er schützt dich vor Unbill und wird dich warm halten in der Kälte und kühl, wenn die Sonne brennt.«
Nendsing öffnete den Mund, aber es kam nur ein Schluchzer heraus. Nun nahm Utate die Kette mit der Kristallphiole ab und legte sie Nendsing um.
»Öffne sie bitte und gib etwas Wasser in meine Hand.«
Die Finger der Segurin zitterten, aber sie zog den glitzernden Stöpsel heraus und gab drei Tropfen Wasser in die ausgestreckte Hand der Unda. Sie gefroren sogleich zu eisigen Perlen und Utate schloss die Faust darüber. Die Narbenlinien glommen hell auf.
»Glaron, Fander – und Kersted: Gebt gut auf Nendsing acht. Denkt daran: Drei mal drei sollen gehen und dreimal eine begleiten, die Quellen aufzusuchen .«
Sie lächelte und strich der nun hemmungslos weinenden Nendsing flüchtig über die Haare. Es lag mehr Abschied als Trost in der Geste. Dann, nach einem kurzen Zögern, hob Utate Nendsings Kinn und fuhr ihr mit zwei Fingerspitzen sanft über die Stirn, malte rasch einen kleinen Kreis darauf. Zurück blieb ein schnell verblassender roter Fleck und nach einem kurzenAugenblick, in dem die Segurin ihren Kummer zu vergessen haben schien, weinte sie genauso herzzerreißend weiter wie zuvor.
Kersted sah es auch in Glarons Augen verdächtig glänzen und hoffte nur, dass es ihm selbst gelingen würde, Haltung zu bewahren. Aber als Utate ihn direkt ansah, wurde es schwer. Er schluckte, der Kloß in der Kehle saß fest.
»Kersted.«
»Ja, Hohe Frau?« Er räusperte sich.
»Ich möchte, dass ihr weiterfahrt. Hörst du? Du wirst nicht warten, ob ich womöglich
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