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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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tat es schon beim Hinsehen weh: Die großen, scharfen Klauen des Vogels bohrten sich in die graue Haut des Läufers, die dick wie Leder sein musste. Der Falke saß   – die Schwingen ausgebreitet   – auf den nackten Schultern des Mannes, ohne ihn zu verletzen. Der Läufer hatte die Augen geschlossen, den Kopf zurückgelegt ins Brustgefieder des Vogels, der über dem Menschen aufragte und dessen kalte, lidlose Blicke die Umstehenden wie Geschosse trafen. Die Oberschenkelmuskeln des Mannes spannten sich unter der Last. Am Ufer des Naryns stand ein Mischwesen, ein Falke mit Menschenleib, ein Mensch mit Vogelkopf. Und dieses Wesen sprach.
    Erst hatte es sich so angehört, als ob der Brust des Falken einleiser Singsang entströmte. Dann hatte Glaron einzelne Worte verstehen können. Sie schienen in seinem eigenen Kopf zu entstehen.
    » Der Mensch schenkt dem Menschen Leben und ist zugleich sein Tod. Söhne stehen auf gegen Väter, Brüder erschlagen einander.
    Im Leib der Erde schwärt ein Hass.
    Im Leib der Erde glimmt die Rache.
    Der Kontinent zerbricht, und was im Feuer ist, wird frei.
    Die Rache sucht eine Seele, der Hass braucht einen Handlanger: Der Dämon will wieder Mensch werden .«
    Der Vogel flog so unvermittelt auf, dass Glaron zusammenzuckte. Dem Läufer sank das Kinn auf die Brust. So blieb er einen Augenblick stehen, mit hängendem Kopf und hängenden Armen   – dann nahm er den Wasserbeutel, den einer der Kwother ihm reichte, und trank gierig.
    Der Dämon will wieder Mensch werden?
    Glaron sah zu dem Welsenoffizier. In Kersteds Gesicht stand die gleiche Frage und Glaron war sich sicher: Sie alle hatten in ihren Köpfen gehört, was die Szasla durch den Läufer mitgeteilt hatte   – erstaunlich! Eine Szasla! Ein Geschöpf der Alten Zeit! Das aber nicht aus der Vergangenheit zu ihnen sprach, sondern die Zukunft vorhersagte. Und das fand Glaron noch viel erstaunlicher.
    Gern hätte er mit Herrn Wigo diese neue Wendung diskutiert. Was bedeutet hätte, dass der Chronist redete und er derweil eine Süßspeise zubereitete, lauschte, mal ein Ist das Euer Ernst? , mal ein Ganz Eurer Meinung! einwarf. Glaron vermisste seine Küche, seine Arbeit und, ja, auch seine Herrin. Es waren gute Zeiten gewesen. Belendra zufriedenzustellen war eine echte Aufgabe und das Schweigen im Haus manchmal unerträglich, aber alles in allem waren es gute Zeiten gewesen.
    Das Dienen lag ihm im Blut. Glaron war froh, wenn er sichkümmern durfte, wenn er sich jemandem unterstellen konnte, und nun war es eben dieser welsische Soldat. Kersted tat sein Bestes, damit die Moral des kleinen Trupps nicht völlig verloren ging, und war dabei so verliebt, dass selbst der Unda ab und an ein Lächeln über das ansonsten besorgte Antlitz huschte. Es war die denkbar schlechteste Zeit für eine Romanze. Unsinn, dafür ist immer Zeit   – das hätte Wigo gesagt. Glaron seufzte. Aber was hätte Wigo gesagt zur Prophezeiung der Szasla?
    Der Dämon will wieder Mensch werden .
    Wie denn? Warum denn?
    »Was hat das zu bedeuten? Der Dämon will Gestalt annehmen?«
    Kersted hatte seine Sprache wiedergefunden. Aber die Unda antwortete nicht.
    »Sie wissen zwar alles über das Wasser«, sagte Nendsing spitz und als ob Utate nicht da stünde, »aber vom Feuer haben die Undae wenig Kenntnis. Niemand weiß mehr als die Seguren, wenn es um Dämonen geht. Wir leiden nicht umsonst seit vielen hundert Soldern unter ihnen.«
    Nendsing war schlecht gelaunt und Glaron wusste, warum: Sie hatte Hunger. Es ging inzwischen gegen Mittag und sie hatten bis auf ein paar Schlucke Wasser noch nichts zu sich genommen. Zu glauben, Seguren seien genügsam, bloß weil sie so klein und schmächtig waren, war ein Fehler. Sie brauchten mindestens so viel Nahrung wie ein durchschnittlicher Pramer, eher mehr, und vor allem brauchten sie hier und da eine Kleinigkeit zwischendurch, einen Meussel , wie sie es nannten. Sonst wurden sie launisch und unberechenbar. Das kam bestimmt vom vielen Denken, dieser ständige Appetit.
    »Nun, Nendsing, warum sagst du uns dann nicht, was du weißt?«
    In der Stimme des Offiziers lag ein kühler Hauch; Nendsing wischte ihre Hände an ihrem Gewand ab. Wenn Glaron ihr nur schnell etwas zustecken könnte! Er sah einen Streit kommen, der zu vermeiden wäre. Aber Nendsing beachtete ihn nicht; sie funkelte den Welsen an.
    »Nur zu gern, Herr Offizier . Etwas Grundsätzliches vorweg: Ein Dämon ist keine schreckenerregende Gestalt, die plötzlich

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