Zwölf Wasser
sprechen. Was sie hörten, war jedoch die eigene Sprache; beiden klang die Sprache der Merzer ebenso vertraut in den Ohren wie das Welsische, es gab keinen Unterschied. Sie hatten die Stadt in den Wolken zwar verlassen, das Sprachverständnis war ihnen aber geblieben.
»Ein gerechter Tausch«, sagte Felt und rieb die Fingerstümpfe seiner verkrüppelten Hand.
»Ich bin froh, dass du das so siehst«, sagte Reva und lächelte. Ob auch sie etwas aus Wiatraïn mitgenommen hatte? Die Unda erschien Felt nicht gelassener oder stiller als zuvor, doch etwas schwer Fassbares umschwebte die zarte Gestalt der Wasserleserin; etwas, das Felt für sich nur als einen Abglanz von Weisheit umschreiben konnte. Wissend war sie zuvor schon gewesen – oft genug war sie Felt sogar allwissend vorgekommen –, doch nun schienen sich Revas Kenntnisse noch vertieft und erweitert zu haben. Felt sah auch, dass sich mehr feine Narbenranken als zuvor über ihr Gesicht zogen. Sie schlängelten sich von den Augenwinkeln über die Wangen den Hals hinab. Ob sie sich ausbildeten, wenn eine Unda aus einer Quelle trank? Noch halb betäubt nach dem ungleichen Kampf mit dem Quellhüter Laszkalis und frierend wie nie zuvor in seinem Leben, hatte Felt in Wiatraïn beobachtet, wie Reva aus dem großen Brunnen getrunken hatte. Weder davor noch danach hatte er sie trinken sehen – aber da hatte sie das Quellwasser der Erkenntnis getrunken. Aus welchen anderen Quellen mochte Reva sonst getrunken haben und warum? War sie dadurch überhaupt erst zur Unda geworden? Felt wusste es nicht, er selbst hatte keine Weisheit aus Wiatraïn mitgebracht. Aber er ahnte, was Reva sagen würde, sollte er sie danach fragen: Du hast vorher nicht besonders viel gewusst, du weißt auch nun nicht besonders viel mehr.
Er machte sich nichts daraus. Die Zeit des Zweifelns war vorüber. Felt wollte sich dem Untergang entgegenstellen, und was er in Wiatraïn beschlossen hatte, behielt Gültigkeit: Er war bereit, der Letzte zu sein. Wenn, wie Wigo es in seinen Aufzeichnungen beschrieben hatte, die Erde beben und aufreißen würde, wollte Felt dennoch weitergehen. Er wollte standhaft bleiben, auch wenn der Kontinent unter seinen Füßen zerbrach. Der Dämon würde an ihm rütteln und versuchen, ihm seine Menschlichkeit zu entreißen. Felt wollte bis zuletzt daran festhalten. Und wenn es denn schließlich so kommen sollte, war er bereit zu sterben, entmenscht und allein.
Noch war es nicht so weit. Noch war die Hoffnung nicht verloren, noch galt es, die Quellen aufzusuchen und zu beleben. Reva machte – vielleicht weil die Zeit drängte, vielleicht weil sie inzwischen gemeinsam so weit gegangen waren – kein Geheimnis mehr aus ihrem nächsten Ziel: Es war die Quelle der Wahrhaftigkeit und gleichzeitig die Quelle der Weißen Aelga. Egal wo in den Schleierfeldern sie jetzt sein mochten, sie mussten nordwärts und Felt dankte Belendra jeden Tag für den Nordweiser, den sie ihm bei ihrer ersten und einzigen Begegnung geschenkt hatte. Ohne die in ihrem irdenen Schälchen schwimmende Nadel war in dieser farb- und leblosen Gegend keine Orientierung möglich. Denn Juhut, der weit hätte vorausschauen können, rührte sich nicht. Er blieb auf dem Arm des Merzers sitzen und schien zu dämmern. Die scharfen Augen waren halb geschlossen, das weiße Gefieder aufgeplustert. Nein, der Falke half ihnen nicht.
Er wollte es nicht ansprechen, aber Felt vermutete, dass Babu mit den Augen des Vogels sehen konnte. Er hatte es bereits ein Mal getan, als sie sich dem Kontinent näherten. Juhut war aufgeflogen und Babu hatte gesagt: »Ich sehe es. Ich sehe Land.«Und erst eine ganze Zeit danach hatte sich der Bug des Boots ins kurze Gras geschoben. Felt hatte geglaubt, Babu und er seien Gefährten, vielleicht sogar Kameraden, wenn sie schon keine Freunde sein konnten. Nun waren sie seit Tagen im Nebel unterwegs und mittlerweile glaubte Felt nicht mehr an ihre Kameradschaft. Warum ließ Babu den Falken nicht aufsteigen? Er könnte ihnen doch helfen! Den Szaslas, diesen Geschöpfen der Alten Zeit, wurde doch so vieles nachgesagt. Reva hatte erzählt, wie die Falken die Menschheit schon einmal vor dem Untergang bewahrt hatten. Sie hatten den unermesslichen Abgrund des Bersts überwunden, waren einfach darüber hinweggeflogen. Die Szaslas hatten den Menschen der Alten Zeit ihr Bewusstsein gebracht und die Fähigkeit, das Böse zu erkennen. Bereits in Wiatraïn hatte Felt bemerkt, welch eine
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