Zwölf Wasser
einem windstillen Morgen, sank Babu zu Boden.
4
Sein Herz rast. Er spürt die Höhe, bevor er sie sehen kann, und fühlt die Geschwindigkeit. Er fliegt. Ihm ist kalt. Um ihn herum ist weißer Dunst – vielleicht Wolken, vielleicht Nebel. Er sieht weder Himmel noch Grund, er braust durchs Nichts. Miteinem Mal bekommt er Angst, irgendwo anzuschlagen, gegen ein Hindernis zu prallen, aber er kann diesen halsbrecherischen Flug nicht verlangsamen oder gar beenden. Er hat keine Macht über sich, er fühlt: Das bin nicht ich, der da fliegt. Ich werde nur mitgenommen, bin wie ein Reiter auf einem unsichtbaren Pferd in einer unsichtbaren Landschaft. Mein Reittier, mein Flugtier, gehorcht mir nicht, und nun erkenne ich, warum: Es ist nicht da, es gibt kein Wesen, auf dem ich sitze. Und mich gibt es auch nicht – ich bin nur der Flug. Ein Pfeil auf dem Weg ins Ziel könnte Ähnliches empfinden. Wann werde ich einschlagen, wo werde ich auftreffen? Werde ich zerbrechen oder mein Ziel zerschmettern? Sinnlose Fragen einer verwirrten Seele. Ich bin kein Pfeil! Ich bin nicht mehr ich . Ich bin nur der Flug.
Dann, mit einem Mal, zerreißt der Schleier des Nebels und er sieht:
Eine Stadt in Flammen. So groß ist die Stadt, so hell und gefräßig die Feuer, so schwarz der Rauch. Von oben erkennt er viele Brandherde, einstürzende Gebäude und Menschen, die wie Hasen durch die Gassen rennen. Er sieht keine Toten, aber er riecht sie. Der Rauch trägt den Gestank von verbranntem Fleisch zu ihm herauf. Und Schreie. Er überfliegt einen weitläufigen Platz, den größten, den er je gesehen hat. Auf diesen Platz haben sich viele Menschen geflüchtet. Hier können sie nicht von glühenden herabstürzenden Balken getroffen werden. Aber die angrenzenden Bauwerke brennen, um die Menschen herum toben die Flammen. Fensterglas birst und prasselt auf das Pflaster; Balkone rutschen von rußgeschwärzten Fassaden. Aus Fensterhöhlen schlagen Flammen. Er kann beobachten, wie die Angst dort unten auf dem Platz wächst, als die Hitze größer und größer wird und das Feuer den Menschen die Luft wegnimmt. Alle drängen zur Mitte des Platzes – aber es sind so viele. Sie trampeln einander nieder, klettern übereinander, versuchen, nach innen zu kommen und nach oben. Denn da kann man atmen, oben ist die Luft, die Kühle. Oben ist Rettung. Ist er die Rettung?
Nein, er ist nur Flug und Auge. Er sieht alles, aber er tut nichts.
Noch unberührt von den lodernden Flammen sind die zwei Türme, die alle anderen Gebäude der Stadt überragen. Ihre goldenen Kuppeln glühen rot im Widerschein des Feuers. Er denkt: Wenn diese Türme einstürzen, werden sie die Menschen auf dem Platz unter sich begraben. Mit diesem Gedanken und dem niederschmetternden Gefühl unabwendbaren Unheils erwacht er.
5
»Ich muss etwas tun! Ich muss ihnen helfen!«
»Babu, beruhige dich, komm zu dir! Schone deine Kräfte. Trink.«
Er tat es, öffnete dann unter großer Anstrengung die Lider und blickte Felt trübe an.
»Nein, du bist noch nicht tot«, sagte Felt. »Nur ohnmächtig geworden. Und in ein ganzes Feld Steinmilchkraut gefallen. Hier, kau das – aber langsam!«
Felt schob Babu einige Blätter zwischen die Zähne und kaute selbst auf dem Kraut. Wer einmal sehr lange krank war, weiß, wie neu einem die einfachsten, selbstverständlichsten Dinge erscheinen können: ein frischer Wind im Gesicht, ein aufrechter Gang, ein helles Glitzern im Wasser. Als Genesender ist man in der Lage, echte Bewunderung für eine Fliege zu empfinden, für das Zusammenspiel der Gliedmaßen, die hauchfeinen Flügel, die Flinkheit. Nach langer Fastenzeit wieder die Bewegung des Kauens auszuführen, ist fremd und wundervoll zugleich. Felt sah das auf Babus Gesicht, lächelte schwach und drehte dabei andächtig einen Stängel der struppigen Pflanze zwischen den Fingern.
»Steinmilchkraut … wir sagen zu Hause auch Blaues Äugelein dazu, weil die Blüten im Lendern so schön leuchten. Es ist schon verblüht, aber man kann das Blau noch ahnen, siehst du es? Schmeckst du es? Ich finde, man kann das Blau sogar schmecken.«
Babu antwortete nicht, sondern schluckte vorsichtig. Felt reichte ihm das Wasser und sprach weiter.
»Dieses Kraut ist das Beste, was uns geschehen konnte. Fasten, das kann jeder. Kein lebendes Wesen leidet gern Hunger, aber erdulden kann man ihn doch – eine gewisse Zeit. Nach dem Hungern wieder mit Essen beginnen, das ist viel schwieriger. Steinmilchkraut wird uns
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