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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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wirkungsvolle Waffe im Kampf um die Menschlichkeit der Falke sein könnte, gerade weil Juhut kein Mensch war und unempfindlich gegen das Wirken des Dämons. Aber warum unterstützte Juhut sie dann nicht? Warum half er ihnen hier und heute nicht dabei, den Weg durch den Nebel zu finden?
    Vielleicht waren die schärfsten Augen nutzlos, wenn das Land sich hinter Schleiern verbarg. Felt musste es einsehen: Ihr Leben hing von der kleinen Nadel ab. Es hatte keinen Sinn, über den Falken zu spekulieren und darüber, wie Babu und der große Vogel zusammenwirkten. Juhut und Babu bildeten auf geheimnisvolle Weise eine Einheit, waren Mensch und Falke, Kämpfer und Waffe. Felt war von dieser Einheit ausgeschlossen, das musste er einfach hinnehmen und sich um Wichtigeres sorgen: die Richtung. Sie mussten nach Norden und der kleinen Nadel folgen, die dorthin wies. Auf keinen Fall durften sie im Kreis laufen, und sie mussten die Schleierfelder bald verlassen. Sonst würden sie verhungern.
    Felt kannte die Anzeichen gut, und sie hatten bereits in Wiatraïn gefastet. Dort war es problemlos gewesen, zurück auf dem Kontinent aber galten die alten Gesetze: Länger als acht Zehnen überstand kein Mensch, nicht einmal ein Welse, ohne Nahrung. Und wem das gelang, der trug oft bleibende Schäden davon. Wie lange hatten sie nun schon nichts mehr gegessen? Es war unmöglich, das genau zu sagen. Die letzte Mahlzeit, an die Felt sich erinnerte, war eine über dem Feuer geröstete Schweinerippe gewesen, genossen im Kreise besorgt dreinblickender Nogaiyer, die Reva und ihn vorm Betreten des Nebelwaldes warnten. Wie lange war das her? Vier Zehnen? Oder sechs? Gar mehr? In Wiatraïn gab es keine Zeit, dort war die Ewigkeit.
    Und hier, auf dem Kontinent, auf den Schleierfeldern war nichts. Kein Fluss, kein Baum, kein Tier. Nur der Berst, der seine nebligen Finger weit ins Landesinnere hineinstreckte, alles befeuchtete, aber nichts belebte. Felt sah Babus eingefallene Wangen und konnte aus dem jämmerlichen Anblick des jungen Mannes darauf schließen, wie grauenhaft er selbst aussehen musste. Er schmeckte seinen bitteren, zähen Speichel und spürte das Brennen beim Wasserlassen, roch die ungesunde Schärfe seines Schweißes und litt unter einer bleiernen Müdigkeit in Beinen und Rücken. Die Anzeichen waren eindeutig: Er verhungerte.
    Er kannte aber nicht nur die körperlichen Auswirkungen des Hungers, Felt wusste auch um die geistigen. Und deshalbwar ihm klar: Er musste unbedingt seinen Willen gegen die Stimmungen und Trugbilder wenden, die Besitz von ihm ergriffen. Es lag am Hunger, dass er Babu mehr und mehr misstraute, und es war Felts Aufgabe, sich diesem Misstrauen zu widersetzen.
    Er starrte auf die Nadel. Sie zitterte nicht wie er, denn er hatte die Schale ins graue, nasse Gras gestellt. Felt wagte nicht mehr, den Nordweiser in der Hand zu halten. Er kniete darüber und wusste nicht recht, wie er wieder auf die Füße kommen sollte, kämpfte gegen die Schwäche. Er hob den Kopf, sah Babu an, dessen braune Augen übergroß waren und tief in den Höhlen lagen. Er kann nichts dafür, dachte Felt, er ist nicht schuld, dass wir hungern, und er kann es nicht ändern.
    Babu griff mit der freien Hand ins weiße Brustgefieder der Szasla und sagte: »Felt, dein Wille ist stärker als meiner. Meiner hängt am Falken, und nur weil Juhut hier ist, bin ich auch noch hier. Ich fürchte, wenn er aufsteigt, steigt mein Geist mit ihm auf und mein Körper bleibt zurück. Lange geht das nicht mehr, denn auch Juhut fastet. Bevor er verhungert, wird er versuchen zu jagen. Er wird davonfliegen und mich mitnehmen.«
    Felt stützte sich auf dem feuchten Boden ab und zwang sich hoch. Er taumelte, machte einen Schritt.
    »Dann sollten wir gehen und nicht stehen bleiben, bevor wir etwas zu essen gefunden haben.«
    Reva hob wortlos die kleine Schale auf und hielt sie ruhig auf ihrer flachen, schmalen Hand. Ihre hellen Augen blickten ausdruckslos in die trübe Umgebung, die keine Weite, keinen Horizont kannte. Das Porzellan der Schale überzog sich mit Reif.
    »Folgt mir dort entlang«, sagte sie schließlich und ging mit fließenden, raschen Schritten voraus.
3
    In den Nebelschleiern zogen Gestalten vorüber. Felt entdeckte Estrids schönes Profil zwischen unbekannten Schemen. Sie sah ihn nicht an, hatte den Blick fest auf etwas gerichtet, das ihm verborgen blieb. Beinahe hätte er gerufen. Sie verwirbelte und verschwand, als er sich ihr näherte. Felt stolperte

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