Zwölfender
verzagte, desto wütender wurde ich auf die Person, der alles galt. Ich unterstellte ihr alles Mögliche, unter anderem verdächtigte ich sie der Mittelmäßigkeit und Willfährigkeit.
Nur vor dem Betonblock kehrte die Neugier zurück.
Ich meißelte mit großer Vorsicht, tastete mich Zentimeter um Zentimeter durch den porösen Stein in das vor, was Gegenwart und Zukunft miteinander verbinden könnte.
Irgendwann erkannte ich schemenhaft eine stehende Figur.
Sie war nur wenig größer als ich.
Ihre linke Hand ruhte auf dem in Schrittstellung nach vorn geschobenen Oberschenkel. Mit der Rechten griff sie sich an die Hüfte, als wollte sie eine Waffe ziehen. Ihre Haltung, ihre Arme, ihr Oberkörper und der leicht gereckte Nacken waren gespannt.
Wieder und wieder, den Meißel in der Hand, umkreiste ich sie.
Wieder und wieder setzte ich mich an den Schreibtisch und versuchte, die richtigen Worte zu finden.
Aber nein. Wir hatten uns nichts zu sagen, so wie ich auch meinen Eltern und allen anderen nichts zu sagen hatte.
Ich stellte fest, dass am untersten Grund meines Nachdenkens Totenstille herrscht.
Dort beschloss ich mich einzurichten.
Ich trug ein paar Bücher hinein, spannte mein Laken und legte mich hin.
Ich knetete meine Stummheit mit geschlossenen Augen und vergaß Buch für Buch.
Eines Nachts stand ich auf, schlafwandelte durch das Haus der Eltern, öffnete Türen, öffnete eine Gartenpforte, öffnete die Werkstatt, ging hinein und trat die Figur um.
Sie zerbrach in wenige Teile.
Ich kehrte zurück, legte mich schlafen und empfand auch am nächsten Tag keine Reue.
Es war wohl mein letzter Versuch, selbst eine Form zu finden.
10
Zurück im Hotel hatte ich das Bedürfnis, Merce wiederzusehen.
Es wäre ein Leichtes gewesen, ihn in seiner Bar aufzusuchen, doch ich entschied mich dagegen. Ich sah fern, blätterte in alten Zeitschriften und trank Rotwein. Ich streckte mich auf meinem Bett aus und suchte die Zimmerdecke nach Hinweisen auf das Gelingen oder Scheitern meiner Reise ab. Mit dem Handy machte ich Fotos von meinem Spiegelbild, löschte sie aber gleich wieder.
Irgendwann schob mich die Müdigkeit nach draußen.
Ich umwanderte den Pfefferbaum. Die Luft war leicht und angenehm weich. Ich breitete die Arme aus und ließ sie wieder sinken. Ich bog in eine kleine Gasse ein, nahm eine nächste, ging immer weiter und mäanderte durch die Stadt, bis ich den Platz vor der geschwungenen Rathaus-Architektur erreichte. Von dort aus lief ich zurück in die Richtung, aus der ich gekommen war, und weiter bis zum Rio.
Als ich mich ans Ufer setzte, war der Himmel fahl. Ich warf ein paar Steine in den Fluss.
Das Licht in meinem Zimmer brannte noch, als ich in Kleidern aufs Bett fiel und einschlief.
Was ich träumte, weiß ich nicht mehr. Es war eine leere Nacht.
Gegen 7 Uhr wachte ich auf, weil mein Handy klingelte.
Robert sprach im Flüsterton. Als ich ihn fragte, wieso, lachte er: »Weil du doch eigentlich noch schläfst.«
»Ach, bitte«, entgegnete ich müde. »Sprich ruhig lauter. Ein Teil von mir ist immer wach.«
»Ich habe eben deine Mail gelesen«, sagte er.
»Wie geht es mit eurem Projekt voran?«, erkundigte ich mich.
»Wie geht es dir?«, fragte er zurück.
»Gut. Stabile Schieflage. Es wär schön, dich hier zu haben.«
»Ja.«
»Willst du mir nicht ein bisschen von deiner Arbeit erzählen?«, bat ich.
»Wir graben, tragen Helme und Lampen auf dem Kopf und wundern uns.«
»Komisch«, sagte ich. »Dann tun wir ungefähr das Gleiche, mir fehlt nur der Helm.«
Er lachte.
»Wann willst du in die Wüste?«
»Wenn alles gut geht, morgen.«
Ich konnte hören, wie er sich einen Kommentar verbat.
»Wirst du noch ein wenig schlafen?«
»Ja. Und du?«
»Ich muss jetzt wieder an die Arbeit. Die anderen warten schon.«
Als ich am Nachmittag aufwachte, war ich mir nicht mehr sicher, ob ich tatsächlich mit Robert gesprochen hatte.
Wenn ich pünktlich bei Laura und Nik sein wollte, musste ich mich beeilen. Ich hastete unter die Dusche, sprang in meine Kleider, griff mir im Hinauslaufen die Landkarte und schaffte es gerade, um 16 Uhr vor ihrem Haus zu stehen.
Alles war wie am Tag zuvor: die Hunde, das Händeschütteln, das Platznehmen.
Erst als ich saß, bemerkte ich, dass mir der Magen knurrte.
Nik schob mir wortlos eine Schale mit Salzcrackern hin, die schon weich waren, mich aber fürs Erste retteten.
Laura erklärte mir, dass sie meine Route
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