Zyklus der Erdenkinder 03 - Ayla und die Mammutjäger
gelegentlich auch als Gegner. Manchmal machten sie Jagd auf einen Wolf, weil sie einen Winterpelz brauchten, und – was freilich sehr selten vorkam – gelegentlich fiel auch einmal ein Mensch einem Wolfsrudel zum Opfer. Doch im großen und ganzen neigten Wolf und Mensch dazu, sich gegenseitig zu respektieren und sich möglichst aus dem Weg zu gehen.
Doch Neugeborene und ganz junge Wesen üben stets einen besonderen Reiz auf die Menschen aus; sie sind gleichsam Quell und Ursache ihres Überlebens als Gattung. Babys – Wolfs-Babys nicht ausgenommen – bringen eine bestimmte Saite in uns zum Klingen, doch Wolf – denn so wurde er fortan gerufen – besaß noch einen besonderen Zauber. Vom ersten Tag an, da der flauschige dunkelgraue Welpe auf unsicheren Beinen über den Boden der Erdhütte kroch, fanden die Menschen ihn unwiderstehlich. Es fiel schwer, sich von seiner Neugier und seiner Zutraulichkeit nicht bezaubern zu lassen, und es dauerte nicht lange, da war er der Liebling des ganzen Lagers.
Zwar waren die Leute vom Löwen-Lager sich dessen nicht bewußt, aber was dazu beitrug, war, daß menschliches und wölfisches Verhalten sich gar nicht so sehr voneinander unterschied. Beide waren sie intelligente Gesellschaftstiere, die sich innerhalb eines allumfassenden Netzes von hochkomplizierten und ständig sich verändernden Beziehungen organisierten, wobei einerseits die Gruppe ihr Gutes hatte, andererseits aber individuelle Unterschiede durchaus zulässig waren. Wegen der Ähnlichkeiten der jeweiligen Gesellschaftsstruktur sowie bestimmter Charakteristika, die sich unabhängig voneinander bei Hunden wie Menschen entwickelt hatten, konnte zwischen ihnen eine einzigartige Beziehung entstehen.
Wolfs Leben begann unter ebenso ungewöhnlichen wie schwierigen Umständen. Als einzig überlebender Welpe des Wurfs einer Einzelgängerin, die ihren Gefährten verloren hatte, hatte er die Geborgenheit eines Wolfsrudels nie kennengelernt. Statt des warmen Trostes seiner Geschwister vom selben Wurf oder einer fürsorglichen Tante oder eines fürsorglichen Onkels, die in der Nähe geblieben wären, hätte die Mutter sich einmal für kurze Zeit entfernt, hatte er eine Einsamkeit kennengelernt, die für einen Wolfswelpen etwas ausgesprochen Ungewöhnliches ist. Der einzige andere Wolf, den er je kennengelernt hatte, war seine Mutter gewesen, doch die Erinnerung an sie trübte sich in dem Maße, wie Ayla an ihre Stelle trat.
Aber Ayla war mehr als nur Mutterersatz. Als sie sich entschloß, das Wolfsjunge zu behalten und aufzuziehen, stellte sie die menschliche Hälfte einer ungewöhnlichen Bindung dar, die sich zwischen zwei völlig verschiedenen Spezies entwickelte – zwischen Hund und Mensch –, eine Bindung, die tiefe und bleibende Wirkung zeitigen sollte.
Selbst wenn andere Wölfe in der Nähe gewesen wären, Wolf war viel zu jung, als Ayla ihn fand, um bereits eine echte Bindung zu ihnen herausgebildet zu haben. In seinem Alter von etwa vier Wochen hätte er gerade erst angefangen, den unterirdischen Kessel zu verlassen und Bekanntschaft mit seinen Verwandten zu schließen – jenen Wölfen, mit denen er sich für den Rest seines Lebens identifiziert hätte. Statt dessen schloß er sich den Menschen und Pferden vom Löwen-Lager an.
Es war das erste Mal, daß dies geschah, doch sollte es nicht das letzte Mal bleiben. Durch Zufall oder mit Vorbedacht sollte dies – so wie die Vorstellung sich ausbreitete – immer wieder geschehen, viele Male und an vielen verschiedenen Orten. Die Ahnen aller Haushunderassen waren Wölfe, und zu Beginn sollten sie ihre Wolfscharakteristika weitgehend behalten. Doch im Laufe der Entwicklung begannen sich bei den vielen Generationen von Wölfen, die in menschlicher Umgebung geboren und großgezogen wurden, Unterschiede zu den ursprünglich wildlebenden Hundevorfahren herauszubilden.
Tiere mit normalen Erbunterschieden in Farbe, Körperbau und Größe – einem dunklen Fell, einem weißen Fleck, einem hochgeringelten Schwanz, besonders kurzen oder langen Beinen – Merkmale also, die sie an den Rand eines Rudels verbannt hätten, falls sie ihretwegen nicht ganz ausgestoßen worden wären, wurden von den Menschen anderen oft vorgezogen. Selbst genetische Verirrungen wie Zwergwüchsigkeit oder grobknochiger Riesenwuchs, die in der Wildform keine Möglichkeit gefunden hätten, zu überleben oder sich gar fortzupflanzen, wurden gehätschelt und gediehen. Schließlich wurden ungewöhnliche
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