Zyklus der Erdenkinder 04 - Ayla und das Tal der Grossen Mutter
müssen wir ihr Gebiet meiden?"
"Es hat Ärger gegeben." Er runzelte die Stirn. "Ich weiß nicht einmal, ob die Flachschädel im Norden genau solche Leute sind wie die von deinem Clan." Er hielt einen Moment inne, dann fuhr er fort: "Aber der Ärger ging nicht von ihnen aus. Auf der Herreise hörten wir von einer Horde junger Männer, die sie belästigten. Es sind Losadunai, Leute, die in der Nähe des Gletschers leben."
"Welche Veranlassung sollten die Losadunai haben, den Clan zu belästigen?" fragte Ayla verwundert.
"Es sind nicht die Losadunai. Jedenfalls nicht alle. Sie wollen keinen Ärger. Es ist nur eine Horde junger Männer. Vermutlich halten sie es für einen Spaß, zumindest dürfte es als solcher angefangen haben."
Ayla dachte, daß die Vorstellung, die manche Leute von Spaß hatten, ihr nicht sonderlich spaßig vorkam; aber es war ihre Reise, die ihr nicht aus dem Kopf ging, der Gedanke daran, wie weit der Weg war, der noch vor ihnen lag. Nach dem zu schließen, was Jondalar gesagt hatte, war er noch sehr weit, und vielleicht war es besser, nicht allzuweit vorauszudenken.
Sie starrte empor und versuchte, durch die Bäume hindurch den Himmel zu sehen. "Jondalar, ich glaube, ich sehe Sterne. Siehst du sie auch?"
"Wo?" fragte er und schaute gleichfalls empor.
"Da drüben. Du mußt gerade hochschauen und dann ein wenig nach hinten. Siehst du sie?"
"Ja - ich glaube, ich sehe sie. Nicht mit dem Pfad aus der Mutter Milch zu vergleichen, aber ein paar Sterne sehe ich", sagte Jondalar.
"Was ist der Pfad aus der Mutter Milch?"
"Das ist ein Teil aus der Geschichte über die Mutter und ihr Kind", erklärte er.
"Ich würde ihn gern hören."
"Ich weiß nicht, ob ich ihn noch zusammenbekomme. Er lautete ungefähr so ..." Er begann, den Rhythmus ohne Worte zu summen, dann setzte er in der Mitte einer Strophe ein.
"Rot wie Ocker gerann in der Erde ihr Blut,
doch das Kind, das helle, belohnt ihren Mut.
Der Mutter Lohn
ein leuchtender Sohn.
Gebirge stieg auf, spie Flammen vom Grat,
sie nährte den Sohn an der bergigen Brust,
hoch stoben die Funken vor Saugens Lust,
der Mutter Milch schrieb am Himmel den Pfad."
"Das war's", schloß er. "Zelandoni würde sich freuen, daß ich es noch so genau weiß."
"Das ist wundervoll, Jondalar. Er hört sich herrlich an." Sie schloß die Augen und sprach die Verse ein paarmal laut nach.
Jondalar lauschte und war abermals verblüfft über ihr gutes Gedächtnis. Sie wiederholte alles wortwörtlich, obwohl sie es nur einmal gehört hatte. Er wünschte sich, sein Gedächtnis wäre ebenso gut wie das ihre und auch seine Fähigkeit, Sprachen so schnell zu lernen wie sie.
"Aber es stimmt doch nicht wirklich?" fragte Ayla.
"Was stimmt nicht wirklich?"
"Daß die Sterne die Milch der Mutter sind."
"Ich glaube nicht, daß sie wirklich aus Milch bestehen", sagte Jondalar. "Aber ich glaube, in dem, was die Geschichte bedeutet, steckt viel Wahrheit. Die ganze Geschichte."
"Und was bedeutet die Geschichte?"
"Sie erzählt von den Anfängen der Dinge, davon, wie wir entstanden sind. Daß wir von der Großen Erdmutter geschaffen wurden, aus ihrem eigenen Leib; daß wir Erdenkinder sind; daß sie dort lebt, wo auch Sonne und Mond leben; und daß die Sterne ein Teil ihrer Welt sind."
Ayla nickte. "Daran könnte etwas Wahres sein", sagte sie. Ihr gefiel, was er gesagt hatte, und sie dachte daran, daß sie diese Zelandoni eines Tages kennenlernen und dann die ganze Geschichte von ihr hören würde. "Creb hat mir erzählt, die Sterne seien die Herdfeuer von Leuten, die in der Welt der Geister leben. All der Leute, die dorthin zurückgekehrt sind, und all der Leute, die noch ungeboren sind."
"Auch daran könnte etwas Wahres sein", sagte Jondalar. Anscheinend waren die Flachschädel doch so etwas wie Menschen; kein Tier würde auf solche Gedanken kommen.
"Er hat mir einmal gezeigt, wo der Geist meines Totems, des Großen Höhlenlöwen, wohnt", sagte Ayla, unterdrückte ein Gähnen und drehte sich auf die Seite.
Ayla versuchte, den Weg vor sich auszumachen, doch riesige, von Moos überwucherte Baumstämme nahmen ihr die Sicht. Sie kletterte weiter, ohne zu wissen, wohin oder warum, und wünschte sich nur, haltmachen und ausruhen zu können. Sie war so müde. Wenn sie sich nur hinsetzen könnte! Der umgestürzte Baumstamm vor ihr sah einladend aus, sofern sie ihn erreichen konnte, aber er schien immer wieder vor ihr zurückzuweichen. Dann war sie auf ihm, aber er gab
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