Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
ziehen, weiß man, dass ein großer Schneesturm im Anmarsch ist. Je weiter man nach Norden kommt, desto kälter wird es, und nach einer gewissen Entfernung wird es auch trockener. Mammuts stolpern in tiefem Schnee. Höhlenlöwen wissen das und folgen ihnen. Du kennst das Sprichwort >Bleibe stets an sich'rem Ort, wenn das Mammut zieht nach Nord<. Falls der Schnee dich nicht einholt,
werden es die Löwen tun.«
Da sie stehen geblieben waren, holte Zelandoni eine neue
Fackel aus ihrem Tragegestell und entzündete sie an Jondalars. Obwohl seine noch nicht ausgebrannt war, schwelte sie
und hatte viel Rauch verbreitet. Nachdem ihre Fackel
brannte, schlug Jondalar mit seiner gegen einen Stein, um
die verbrannte Holzkohle abzustreifen. Nun brannte die
Fackel viel heller. Ayla spürte, wie sich das Kind in der Tragedecke auf ihrem Rücken bewegte. Jonayla hatte geschlafen, eingelullt durch die Dunkelheit und die Bewegung ihrer
Mutter, doch jetzt wurde sie anscheinend wach. Sobald sie
sich in Bewegung setzten, beruhigte sich die Kleine wieder. »Die Männer des Clans jagten Mammuts«, sagte Ayla.
»Ich habe die Jäger einmal begleitet, um dabei zu helfen,
das Fleisch zu trocknen und zurückzutragen.« Nach kurzem
Überlegen fügte sie hinzu: »Ich glaube nicht, dass die Leute
vom Clan jemals in eine Höhle wie diese gehen würden.« »Warum nicht?«, fragte Zelandoni, während sie weiter in
die Höhle vordrangen.
»Sie könnten nicht sprechen, vielmehr sollte ich sagen, sie
könnten einander nicht gut verstehen. Hier ist es zu dunkel,
selbst mit Fackeln. Außerdem fällt es schwer, mit den Händen zu reden, wenn man eine Fackel hält.«
Diese Bemerkung machte Zelandoni erneut bewusst, wie
eigenartig Ayla manche Laute aussprach, was besonders
auffiel, wenn sie über den Clan und die Unterschiede zu den Zelandonii erzählte. »Aber sie können doch hören, und sie benutzen Wörter. Du hast mir einige ihrer Wörter ge
nannt«, meinte sie.
»Ja, sie benutzen Wörter«, erwiderte Ayla und erklärte,
für den Clan sei der Klang der Sprache nebensächlich. Sie
verwendeten Namen für bestimmte Dinge, doch Bewegungen und Gesten waren vorrangig. Dabei ging es nicht nur
um Handzeichen, sondern vor allem um Körpersprache.
Wo man die Hände hielt, wenn man die Zeichen machte,
die Körperhaltung, Positur und Stellung der kommunizierenden Person, das Alter und das Geschlecht der beiden,
die die Zeichen machten, und an wen sie gerichtet waren,
häufig kaum wahrnehmbare Hinweise und Gesichtsausdrü
cke, eine leichte Bewegung mit dem Fuß, der Hand oder der
Augenbraue, das alles gehörte zu ihrer Zeichensprache. Schon sehr früh mussten die Kinder des Clans lernen, wie
man Sprache wahrnahm, die man nicht hörte. Daher konnten sehr komplexe und umfassende Gedanken mit nur wenigen sichtbaren Bewegungen und noch weniger Geräuschen ausgedrückt werden - aber nicht über große Entfernungen oder in der Dunkelheit. Das war ein großer Nachteil. Ayla erzählte ihnen von einem alten Mann, der, blind
geworden, sich schließlich aufgegeben hatte und gestorben
war, weil er nicht mehr kommunizieren konnte; er konnte
nicht sehen, was die Leute ihm mitteilten. Natürlich musste
der Clan manchmal im Dunkeln sprechen oder sich über
weite Entfernungen etwas zurufen. Das war der Grund,
warum sie einige Wörter entwickelt hatten und Geräusche
verwendeten. »Genau wie wir nur selten Gesten benutzen«,
sagte sie. »Menschen wie wir teilen ebenfalls über Haltung,
Ausdruck und Gesten etwas mit, aber nicht so oft.« »Wie meinst du das?«, fragte Zelandoni.
»Wir benutzen Zeichensprache nicht so bewusst oder
ausdrucksvoll wie der Clan. Wenn ich eine winkende Geste
mache« - sie zeigte ihnen die Bewegung, die sie meinte »wissen die meisten, dass es >komm< heißt. Mache ich sie rasch und mit gewissem Nachdruck, deutet es auf Dringlichkeit hin, aber aus der Entfernung lässt sich normalerweise nicht erkennen, ob ich damit meine, dass jemand verletzt ist oder die Abendmahlzeit kalt wird. Wenn wir uns anschauen und die Lippenbewegungen oder den Ausdruck in einem Gesicht sehen, verrät es uns mehr, doch selbst in der Dunkelheit, im Nebel oder aus der Entfernung können wir uns trotzdem fast ebenso gut verständigen. Sogar durch Rufe über große Entfernung können wir vollständige und schwierige Gedanken klarmachen. Die Fähigkeit, zu sprechen und sich unter fast allen Umständen zu verstehen, ist
ein echter Vorteil.«
»So habe ich das noch nie gesehen«, meinte
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